Das brandaktuelle Thema in Europa, welches unsere „freie“ internationale Gemeinschaft teilt und polarisiert, wird von der Mehrheit der Gesellschaft und von den Medien, viel zu emotional aufgenommen und wiedergegeben. Deswegen möchte ich nun den Versuch wagen, einen kritischen und rationalen Blick auf dieses heikle Thema zu werfen.
Damit eines mal herrscht, nämlich Klarheit: 1) Völkerwanderungen sind kein neues soziales Phänomen. 2) Migrationswellen wurden in der Geschichte oft als Instrument der Geopolitik, also als Hebelwirkung eingesetzt. 3) Beide Weltanschauungen, sowohl die doppelmoralische und infantile „multikulti-Weltoffenheit“ (Liberalismus), als auch der populistische und kurzsichtige Protektionismus (Konservatismus), können lediglich das Symptom und nicht einmal ansatzweise die „Krankheit an sich“ bekämpfen!
Ich will nun einige empirisch belegbare Argumente für Punkt 1) und 2) aufzählen:
Am 11. Okt. 2004 hat die EU alle bestehenden Sanktionen gegen Libyen aufgehoben und zwar nicht, weil Libyen seine Massenvernichtungswaffenprogramme aufgeben wollte, sondern, weil die Angst vor den nordafrikanischen Migranten ein taktisches Erpressungsmittel war (Greenhill, S. 15). Warum ist dem so? Wovor hatten die Politiker Angst? Der indische Botschafter Samar Sen, bringt es mit einer Frage auf dem Punkt: Wenn Aggression gegen einen fremdem Staat bedeutet, dass sie dessen Gesellschaftsstruktur belastet, dass sie seine Finanzen ruiniert, dass er Territorium für die Aufnahme von Flüchtlingen bereitstellen muss… wo liegt dann der Unterschied zwischen dieser Art der Aggression und der anderen Art, der klassischen Art, bei der jemand einen Krieg erklärt (Greenhill, S. 29)? Migration als politische Waffe?
Ein älteres Beispiel: Man denke daran, dass die inzwischen berüchtigte Mariel-Bootskrise im Jahr 1980 bereits beinahe zehn Tage lang im Gang war, bevor Victor Palmiere, der damalige US-Koordinator für Flüchtlingsfragen, entdeckte, dass der kubanische Präsident Fidel Castro 1980 nicht zum ersten Mal versucht hatte, eine Massenmigration zu nutzen, um die USA zu Konzessionen zu zwingen (Engstrom, S. 189). In manchen Fällen wurde geblufft, manchmal wurde die Drohung in die Realität umgesetzt und manchmal wurde sogar darüber öffentlich geredet und zwar von den höchsten politischen Ämtern – hierzu ein Zitat vom weißrussischen Präsidenten: „Wir werden Europa nicht vor den Menschenströmen schützen, wenn die Europäer nicht zahlen“ (Robin Shepherd). Migration als Erpressungsmittel? Dies ist nichts Neues und Erdogans Türkei erpresste 2016 die europäische Union und benutzt die Flüchtlinge als politisch-wirtschaftliche Hebelwirkung so der bulgarische Soziologe und Dozent Ivo Hristov!
Zwischen Fremdenhaßer und multikulti-Liberale: Warum ist, nicht nur meiner Meinung nach, die multikulti Politik der Wirtschaftselite voller Doppelmoral? Trotz rhetorischer Beteuerungen des Gegenteils haben die meisten westlichen freiheitlichen Demokratien schon lange schizophrene Beziehungen zu Migranten und Flüchtlingen. So gab es zum Beispiel, wie Roger Smith festegestellt hat, neben der liberalen Tradition der Vereinigten Staaten und ihrer Selbstindentifikation als Nation von Einwanderern eine antiliberale Tradition des askripitven Amerikanismus, die die Vorstellung von einem ethischen Kern protestantisher Angelsachsen hat, der vor der Verwässerung von außen geschützt werden müsse (Greenhill, S. 63; zitiert wird Smith 101). Diese Doppelmoral ist nicht nur in den USA festzustellen: Ein weiteres passendes Zitat zur westlichen Heuchelei, bietet uns ein britischer Kommentator, welcher während der Krise des Zustroms der Kurden nach Westeuropa 1998 die Deutschen wegen ihre scheinbaren Heuchelei zurechtwies: „Sie geißelten (die Deutschen Politiker) in einem Atemzug die Türkei wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen gegenüber der kurdischen Bevölkerung – nur um gleich darauf zu behaupten, dass die Kurden, die es nach Italien schaffen, nur auf der Suche nach einem wirtschaftlich guten Leben seien und geradewegs wieder nach Hause zurückgeschickt werden sollten“ (Cornwell, Independent, 8. Jan. 1998). Aus wirtschaftlicher und demographischer Sicht, sehen wir eindeutig das politische Dilemma des Westens: auf der einen Seite, eine immer älter werdende „europäische“ Gesellschaft, welche bald kein soziales Gleichgewicht erzeugen kann, weil die künftig fehlende Arbeitskraft (wie hier in der demographischen Statistik und Prognose unten im Bild deutlich abzulesen ist: https://josefmuehlbauer.com/voelkerwanderungen/) das Sozialsystem ruinieren wird und auf der anderen Seite, eine geplannte Destabilisierung des Nahen Osten und der muslimisch-geprägten Welt, mit dem kalkulierbaren sozialen Effekt der Völkerwanderung, welche bewusst oder unbewusst in Gang gesetzt wurde. Wenn man dahinter eine Absicht unterstellt, müsste man doch schlussfolgern, dass die ökonomische Doktrin eine „Volksverjüngung“ einfordert. Hier müssten wir weiterhin feststellen, dass dies einerseits heuchlerisch ist (weil man sich ja als Helfer ansieht) und andererseits ökonomisch falsch (weil die Ausbildung der Einwanderer und somit deren Integrierung in die Ökonomie kostspielig ist – wie es der Autor und Ökonomon Prof. Werner Sinn empirisch festhält (Vortrag vom März 2016, Ifo Institut Leibniz). Dies belegt die Statistik: knapp weniger als die Hälfte der Flüchtlinge haben keinen mittleren Schulabschluss oder können weder Lesen noch Schreiben (Prof. Hans Werner Sinn). Also die Aufnahme der Flüchtlinge als wirtschaftliches Plus zu betrachten ist schlicht falsch.
Die innenpolitische Spannung und die wirtschaftlichen Folgen der liberalen „Weltoffenheit“, könnten dramatisch werden und würden zum Verschwinden des christlichen Abendlandes führen. Doch auf der anderen Seite ist der Populismus und die konservativ-protektionistische Politik, blind auf dem ökonomischen Auge. Man kann keinen Frieden, ohne Gerechtigkeit schaffen! Die westliche Welt, mit einem Anteil von rund 15% an der Weltpopulation, verbraucht rund 40% der Ressourcen. Mit anderen Worten: der Westen lebt aufgrund des Imperialismus und der Ausbeutung, über dem eigenen Verhältnis. Zu kurz greift das Denken, Mauern und Isolation könnten Frieden und Wohlstand für jeden bringen. Fazit: erstarkte Nationalstaaten und der krampfhafte Versuch den (ungerechten) Status Quo weiterhin beizubehalten, sind genauso wenig eine langfristige Lösung, genauso wie die Öffnung der Grenzen keine ist, solange man am neoliberalen Parardigma der Wirtschaft, beibehält:
Die neoliberale Doktrin des unendlichen Wirtschaftswachstum und die damit implizierten Folgen davon, nämlich Ausbeutung und Expansionskriege sind das Kernproblem der Völkerwanderungen. Mehr als 3 Mio. Rumänen und 2 Mio. Bulgaren haben ihre Heimat, verlassen um als Wirtschaftsmigranten ihr Glück zu suchen. Die Kriege, welche vom „Westen“ ausgelöst bzw. mitfinanziert wurden, haben nicht nur für Ungerechtigkeit gesorgt, sondern auch Massenmigrationen ausgelöst (vorallem im Nahen Osten und in Afrika). Der Wahrheit zu Liebe, muss ich erwähnen, dass China und Russland genauso an dem kapitalistischen Denken festhalten wie die „offene, internationale Gesellschaft“. Geschichtlich bedingt, hat sich die größte Mafia-Struktur darwinistisch durchgesetzt, doch das macht die anderen schwächeren Tyrannen (wie u.v. Putin) nicht zum Heiligen.
Literatur:
Kelly M. Greenhill – Massenmigration als Waffe, Kopp Verlag, 2010.
Robin Shepherd – Belarus Issues Threat tu EU over Summit, Times, 14. Nov. 2002.
Rogers Smith – Civic Ideals: Conflicting Visions of Citizenship in US History, Yale University Press, 1997, S. 101.
Rupert Cornwell – A Good Time Not to Say „I Told You So“, Independent, 8. Jan. 1998.
Hans Werner Sinn – Vortrag vom März 2016, Ifo Institut, Leibniz.
David Wells Engstrom – Presidential Decision Making Adrift: The Carter Administration and the Mariel Boatlift, 1998, S. 189.