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Man kann es getrost als schizophren betrachten, das Verhalten von so manchen Zeitgenossen. Da werden verbal hohe Ziele genannt: Umweltschutz, Weltklima, Gesundheit, ethische Werte- und was sonst noch irgendwie nach einer besseren Welt klingt. Schaut man sich aber die Praxis an, das reale Verhalten im täglichen Leben, dann erkennt man den Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Es ist schon irgendwie verrückt. Alles soll besser werden, aber nichts darf sich ändern. Irgendwie schizophren, oder? Da plädieren denkende Menschen für eine saubere Umwelt, für den Erhalt des Einzelhandels, für mehr Frieden auf der Welt - alles hehre Ziele. Wenn man dann allerdings das Verhalten mancher Menschen im Alltag betrachtet, dann fällt einem nur noch der Begriff „schizophren“ ein. Irgendwie ist alles anders, als man es sich wünscht. Diese Schizophrenie trifft man in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens, sei es Politik, Familie, Beruf, Ernährung und Umwelt. Schizophrenie, der Unterschied zwischen der Theorie, den Ansprüchen und Erwartungen - und der Praxis, der Bequemlichkeit.

Nun wird Schizophrenie, medizinisch betrachtet, als eine psychische Störung bezeichnet, die das Denken, die Wahrnehmung, beeinträchtigt. Umgangssprachlich hingegen wird Schizophrenie als eine Bewusstseins- oder Persönlichkeitsspaltung betrachtet. Schaut man sich das Alltagsverhalten vieler Menschen an, so trifft der Begriff Bewusstseinsspaltung schon irgendwie zu. Es ist irgendwie verrückt zu sehen, wie weit die hochgesteckten, verbal geäußerten Ziele von den tatsächlichen Reaktionen im Alltag abweichen, sei es aus Bequemlichkeit oder wegen der fehlenden Fähigkeit zum ernsthaften Nachdenken. Hier hat der Konjunktiv Hochkonjunktur: „Man müsste eigentlich“ oder „Man sollte eigentlich“ - Sätze, die nachdenklich stimmen. Nun gibt es das „Phänomen“ nicht nur im persönlichen Bereich, nein, auch Firmen leiden unter dem Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis.

So lockt zum Beispiel ein großer Automobil-Hersteller in seinem Partner Support Programm Mitarbeiter zu Auslandseinsätzen. Der Text der Informationsbroschüre: „Damit ihre begleitenden Partnerinnen bzw. ihre begleitenden Partner die Zeit im Ausland bestmöglich nutzen kann, bieten wir auch für sie/ihn eine umfassende Beratung und Unterstützung an in Zusammenarbeit mit kompetenten Organisationen. An den Gaststandorten hat der Konzern das Partner-Supportprogramm entwickelt, das den beruflichen und persönlichen Herausforderungen eines Assignments für mit ausreisende Partnerinnen und Partner Rechnung trägt. Im Fokus stehen die persönliche Beratung und die Förderung von Aktivitäten im Rahmen von Beruf und Karriere, Studium und Weiterbildung oder Kultur und Ehrenamt. Den Partnerinnen und Partnern steht hier für ein individuell nutzbares Budget zur Verfügung. Mit Kindern im Ausland: ein Auslandseinsatz ist für ihre Kinder eine besondere Erfahrung. Wir legen Wert darauf, gemeinsam mit Ihnen passende Betreuungsangebote und Bildungseinrichtungen zu finden. Damit der Auslandseinsatz für Sie und Ihre Familie zu einer rundum guten und erfolgreichen Erfahrung wird, erörtern wir mit Ihnen gemeinsam die Bedarfe ihrer Familienmitglieder. Unsere Schulberatung steht Ihnen für spezifische Fragestellungen zur Kinderbetreuung und Beschulung weltweit zur Seite.“

Soweit die Theorie. Wer allerdings in den USA den Prozess gegen einen dort wohnenden loyalen Mitarbeiter des deutschen Unternehmens verfolgte, ein Mensch, der offenbar nach Absprache mit der obersten Geschäftsleitung das Unternehmen mit Falschaussagen vor Milliardenstrafen zu schützen versuchte, der kann nur den Kopf schütteln, wenn er liest, dass diesem Mitarbeiter, der im wahrsten Sinne des Wortes seinen Kopf für das Unternehmen hinhielt, nun fristlos gekündigt wurde. Zur „Belohnung“ für seinen Einsatz erhielt er eine Strafe von 400.000 $ sowie sieben Jahre Gefängnis. Der Unterschied zwischen Theorie (auf dem Papier) und der Praxis, irgendwie schizophren, oder?

Nehmen wir zur Anschauung ein eher harmloses Beispiel für die Diskrepanz zwischen Denken und Tun. Da sitzen Rentner oder Pensionäre am heimischen Stammtisch und klagen über die immer schneller werdende technische Entwicklung. Der Standardsatz „Wo soll denn das alles noch hinführen?“ entpuppt sich dann als Lachnummer, wenn die Jammerer sich anschließend in ihren SUV mit reichlichem Spritverbrauch setzen und dann GPS gesteuert in die sich automatisch öffnende Garage fahren. Schizophren, oder?

Da wird energisch gegen die zunehmende Umweltverschmutzung protestiert und demonstriert - und gleichzeitig werden Getränke und Speisen mit Pappbechern und Wegwerf- Verpackungen konsumiert. Der Kaffee wird nicht mehr in recyclebaren Pappkartons gekauft, sondern in umweltbelastenden Einweg-Kapseln. So trugen im vergangenen Jahr über 30.000 Tonnen Zellstoff-Pads, -Pappbecher und Plastikhüllen nach Gebrauch intensiv zur Umweltverschmutzung bei. Auch von verbalen Umweltschützern. Irgendwie schizophren.

Da wird beklagt, dass die steigende Erhöhung des Durchschnittsgewichts der Bevölkerung zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen und Langfristkosten führen wird. Gleichzeitig aber werden im Restaurant zu schmackhaften Speisen Cola-ähnliche, körperfüllende Getränke bestellt. Inwieweit die Funktionsfähigkeit der Geschmacksnerven noch aktiv ist, sei eine andere Frage. Zum Ausgleich der Nahrungsmittelzufuhr und zur Gewichtsreduzierung begibt man sich dann regelmäßig in ein Fitnessstudio, das bequem per Rolltreppe zu erreichen ist. Wem hier das Stichwort Schizophrenie einfällt, der liegt nicht ganz falsch.

Da wird das Sterben von Einzelhandelsbetrieben in Städten und auf dem Land bejammert: „Früher war das ganz anders“). Gleichzeitig aber werden per Internet die Schuhe bei Zalando (o.ä.), die Bücher bei Amazon (o.ä.), die Lebensmittel bei hellofresh (o.ä.) und der Rest im Otto-Katalogen (o.ä.) bei den 100 umsatzstärksten Onlineshops bestellt. Laut Statistischem Bundesamt kaufen 47 Millionen Menschen in Deutschland online ein, Tendenz steigend. Die zwangsläufige Schließung des Händlers um die Ecke wird dann scheinheilig mit der Globalisierung oder den Lohnforderungen der Gewerkschaften begründet. Irgendwie schizophren, oder?

Da wird die enorme Umweltbelastung durch den zunehmenden Verkehr angeprangert, gleichzeitig aber die Kreuzfahrt auf einem der Energie fressenden umweltbelastenden Kreuzfahrtschiffe gebucht. (Man gönnt sich ja sonst nichts). Auf hoher See fahren die Riesenpötte mit einem täglichen Schwerölverbrauch von durchschnittlich 150 Tonnen. Das Abfallprodukt der Petrochemie enthält 3500-mal mehr Schwefel als auf Europas Straßen PKW erlaubt. Nun ist ein solches Schiff nicht nur unterwegs, sondern liegt zu 40 % seiner Zeit in Häfen. Ein-und auschecken, die Versorgung des Gastronomiebetriebs, generell die gesamte Logistik, die sich um die Reise herum aufbaut, verbraucht „die Energie einer Kleinstadt“, so der Tourismusexperte Frank Herrmann in seinem Buch „FAIRreisen“. Laut NABU stößt eine Kreuzfahrt so viele Schadstoffe aus wie 5 Millionen PKW auf gleicher Strecke. Wem eine Schiffsreise nicht behagt, der lässt sich dann auf seiner Urlaubsreise per Flieger in weit entfernte Länder tragen. So trägt jeder seinen Teil zum allseits bejammerten Umweltthema bei. Irgendwie schizophren, oder?

Da wird medienwirksam von verschiedenen Gruppen mehr Frieden auf der Welt gefordert. Gleichzeitig schicken expansionswillige Religionsgruppen ihre mehr oder minder friedlichen Missionare in Gebiete konkurrierender Vereine und wundern sich dann, dass dort neue Konflikte bei der Durchsetzung der eigenen Theorien entstehen. Frieden bringen, indem man unbewiesene Theorien als die absolut friedensstiftende Wahrheit verkauft, das kann nur neue Unruhe erzeugen. Die Differenz zwischen Theorie und Praxis, irgendwie schizophren, oder?

Da werden Proteste gestartet gegen die Überwachung von öffentlichen Plätzen aus Sicherheitsgründen mittels Kameraaufzeichnungen. Dabei wird wohl jeder dankbar sein, wenn sein „U-Bahn-Schubser“ oder siegestrunkener Hooligan nach der Tat anhand der Bilder schnell ermittelt werden kann. Verletzung der Persönlichkeitsrechte? Gleichzeitig veröffentlicht man über „Informationsmedien“ wie Twitter, Instagram, Facebook oder sonstige Fake News und Wortmüll produzierende Internetkanäle privateste Informationen - und wundert sich dann, vollkommen überrascht, dass der Rest der Welt über persönliche Dinge informiert ist und sich über den Kontoinhaber vielleicht sogar mokiert. Irgendwie schizophren, oder?

Woher aber kommt eigentlich dieser Zwiespalt im Verhalten? Nun, meist haben unsere „Macken“ ihre Entstehung im Elternhaus. Da wurden Verhaltensmuster geprägt, die zur damaligen Zeit vielleicht noch ihre Berechtigung hatten, die aber von der Entwicklung überholt oder überrollt wurden. Hinzu kommt heute eine steigende Wissensüberflutung. Wir wissen zwar immer mehr, unser Urteilsvermögen allerdings sinkt.

Der scherzhaft gemeinte Satz „Lieber schizophren als ganz alleine“ sollte vielleicht gelegentlich dazu veranlassen, sein eigenes schizophrenes Verhalten mal zu überprüfen, indem man sich geistig neben sich stellt und fragt „Warum und mit welcher logischen Begründung hast du diese Entscheidung getroffen?“ Bei dieser selbstkritischen Prüfung wird relativ schnell klar, dass man eigentlich gar nicht richtig nachgedacht hat, sondern instinktiv, halt so wie immer, handelte. Selber denken kostet nichts, es bringt aber näher die Ziele heran, die man selbst gerne lauthals propagiert – und es verhindert ein schlechtes Gewissen.

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Die Mediation“.

Quellen: Goldfuß Jürgen W. „Selber denken kostet nicht“, Springer Gabler,

„Wer sich nicht führt, der wird verführt“, Junfermann-Verlag,

„Führen in schwierigen Zeiten“, Campus-Verlag

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