Vor beinahe 20 Jahren fuhr ich mit meinen beiden besten Freunden vier Wochen durch Europa. Auf Amsterdam, eine der ersten Stationen, hatte ich mich besonders gefreut. Ich liebe diese Stadt mit ihren Grachten, ihren winzigen Läden, ihrer Weltoffenheit. Wir liefen zusammen die Straßen entlang, wichen den unzähligen Fahrrädern aus und aßen ziemlich viele unterschiedliche Dinge, die alle frittiert waren. Am Ende einer breiteren Straße sahen wir eine Menschenmenge. Ein Straßenfest! Weiter vorne konnte ich eine Bühne entdecken, davor standen eine Handvoll Getränkewagen auf dem Gehweg. Vor der Bühne tanzten die Menschen dichtgedrängt. An uns vorbei liefen ein paar buntgekleidete, schrill geschminkte, überdurchschnittlich große Frauen in einer kleinen Konga-Reihe. Erst einige Jahre später wird mir klar, dass ich in einen Teil der Amsterdamer „Gay Pride“ geraten war – ein Straßenfestival für Toleranz und (homosexuelle) Liebe.
Die Frau vor mir in der Menge warf mir ihre langen, künstlichen blonden Jahre ins Gesicht. Als ich mich beschwerte, drehte sie sich um und lachte unter einem dunklen Vollbart: „Sorry, Darling!“. Ich sah mich um und entdeckte plötzlich nicht mehr nur gesichtslose Menschen in einer Masse, sondern Details: Bärte und lange Perücken, Feder-Kopfschmuck, Leder und Ketten und halbnackte Menschen, manche mit Bodypainting. Ich lief fasziniert mit meinen Freunden durch das fremdartige Bild, bis es immer schwieriger wurde, voranzukommen. Wir schoben uns mit der dichter werdenden, fröhlich lärmenden Menschenmenge nach vorne Richtung Bühne, die schräg an der Einmündung einer Querstraße aufgebaut war. In einem Moment spürte ich noch die Hand meiner Freundin in meiner, dann verlor ich sie zwischen den immer enger zusammen stehenden Menschen. Einen ewig scheinenden Augenblick lang bewegte sich gar nichts mehr. Ich stand eingequetscht zwischen hüpfenden und schiebenden Körpern. Dann kam plötzlich Bewegung in die Masse.
Ohne dass ich sah, was passiert war, und wer diese Bewegungsrichtung ausgelöst hatte, wurden wir alle zurückgedrängt. Ich drehte mich mühsam um, um nicht rückwärts zurück getrieben zu werden. Dann wurden wir alle nach vorne, an den Anfang der Straße, geschoben – ohne dass irgend jemand die Situation hätte kontrollieren können. Hatten wir für unseren Kampf bis zur Bühne insgesamt eine halbe Stunde gebraucht, ging es nun rasend schnell. Ich hörte meine Freundin rufen, sie war plötzlich weiter vorne als ich. Ich merkte, wie mir die Beine wegklappten. Ein ganzes Stück rutschte ich hinunter und war dem Strom nun noch unkontrollierter ausgesetzt als bisher. Da spürte ich hinter mir zwei starke Arme, die mir unter die Ellenbogen griffen. Sie zogen mich hoch und hielten mich dort. Unter meinen Füßen war nun wieder die Straße, und so hielt ich dankbar meine rechte Hand auf die fremde Hand, die mir geholfen hatte. Wenige Sekunden später hörte der unfassbare Menschenstrom auf, verlief sich in dem Delta der breiten Straßenmündung. Die Arme hinter mir waren so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren, und keuchend und voller Adrenalin stand ich am Gehsteig und fragte mich, was da gerade passiert war.
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Wie gefährlich die Situation war, werde ich erst viel später begreifen. Und ich werde es nicht mehr vergessen. Aber ich werde auch nicht vergessen, wie in dieser unkontrollierbaren Menge, in der alle Angst hatten, jemand mich hob und wieder auf die Beine stellte.
Niemand kann die Bewegung aufhalten, niemand kann den Strom kontrollieren. Kein Protektorat, keine Mauer, und niemals der Hass auf andere.
Wir sind alle unterschiedlichen Strömen hin und wieder ausgeliefert, ohne jede Kontrolle über die Situation. Und wenn es wieder so weit sein sollte, dann bin ich tausendmal lieber in einem Strom voller bunter, federntragender Menschen, die für Liebe und Toleranz einstehen. Dort, wo aufeinander geachtet wird, dort, wo wir es gemeinsam versuchen, sind nämlich auch meine Überlebenschancen größer.