Wilhelm von Humboldt hat einmal gesagt: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“
Kritiker der Bundestagsresolution vom 2. Juni 2016 zum Völkermord an den Armeniern, Aramäern, Pontosgriechen und yezidischen Kurden stellen oft die Frage, "Warum gerade Deutschland?" in den Raum. Manche gehen weiter und werfen dem Parlament gar „oberlehrerhaftes Verhalten“ vor.
Jedoch erübrigt sich bereits die Frage an sich. Außer Dänemark sind alle Nachbarstaaten den Schritt des Bundestages bereits früher, teilweise sogar deutlich früher, gegangen. Der Bundestag hätte z.B. 2015 zeitgleich mit Tschechien, Österreich und Luxemburg die entsprechende Resolution verabschieden können. Viel wichtiger aber ist, und das führt uns zurück zu Wilhelm von Humboldt, dass Deutschland sich, nachdem es mit dem Holocaust das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte beging, sich moralisch weiterentwickelt hat. Eine solche Entwicklung konnte nur durch Druck von außen, in Form der alliierten Entnazifizierungspolitik, stattfinden. Druck auf die Türkei ist bis heute ausgeblieben. Im Gegenteil, hier kann man im Hinblick auf spätere Verbrechen, die in einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zum Völkermord stehen, von einer alliierten Komplizenschaft seitens der NATO sprechen.
Die Folgen dieser Komplizenschaft spricht bereits die Überschrift des, nur einen Tag nach der Bundestagsresolution veröffentlichten, Artikel „Gli armeni di ieri sono i curdi di oggi. E’ sempre la stessa Turchia“ von Antonio M.Suarez an. Ins Deutsche übersetzt lautet sie "Die Armenier von gestern, sind heute die Kurden. Die Türkei ist die Selbe." Während Deutschland rassistische und ultranationalistische Staatsdoktrin hinter sich gelassen hat, hat die Türkei nämlich daran festgehalten. Gerade der Umgang Deutschlands mit den dunkelsten Kapiteln seiner Vergangenheit ist ein besonders gutes Positivbeispiel für die Art von Veränderung, die in der Türkei dringend notwendig wäre.
Völkermord an nicht „nur“ Armeniern, sondern auch an Aramäer, Pontosgriechen und yezidischen Kurden
„Die Türken waren da. Alles was bleibt ist Zerstörung und Schmerz. Chios, die Insel der Weine, ist nur noch ein dunkler Fels.
(…)
Um Dich in meinem Antlitz wieder zum Lächeln zu bringen,
möchtest du einen schönen Vogel des Waldes,
dessen Gesang süßer klingt als die Oboe und heller noch als ein Cembalo?
Was möchtest du? Blumen, süße Früchte oder den wunderbaren Vogel?
„Mein Freund“, sagte das griechische Kind, sagte das Kind mit den blauen Augen, „ich möchte Schießpulver und Kugeln.“
So beschreibt Victor Hugo die Nachwirkungen des Massakers von Chios in „Les Orientales“. Eine Schilderung, deren Einleitungssatz Georges Brézol 1911 für seine Beschreibung der Massaker von Adana und Aleppo anno 1909 übernimmt. Damals wurden, nachdem bereits 1894 bis 1896 mehr als 300.000 Armenier und Aramäer den Hamidischen Massakern im Namen des Panislamismus zum Opfer fielen, 40.000 bis 50.000 Armenier von den sog. Başı-Bozuk-Einheiten systematisch ermordet. Bereits diese beiden Großmeister französischer Literatur deuten an, was passiert wenn sich dunkle Kapitel der Geschichte wiederholen.
Die erste Definition des Wortes „Genozid“ oder „Völkermord“ stammt von Raphael Lemkin. Er verfasste sie unter dem Eindruck der Vernichtung und Vertreibung der Armenier, Aramäer, Pontosgriechen und yezidischen Kurden zwischen 1912 und 1922 im Osmanischen Reich.
Kleinere Änderungen dieser Definition wurden nach dem Holocaust im Dritten Reich vorgenommen.
Einer von vielen Beweisen des Grauens, das sich im Schatten des Ersten Weltkriegs auf den Todesmärschen und in den Konzentrationslagern der syrischen und irakischen Wüste abspielte, ist die Kapelle vom Margadeh auf dem Gelände der ehemaligen Konzentrationslager in der Wüste Deir ez-Zor. Die Erde im unmittelbaren Umfeld der Kapelle ist ein Massengrab. In ihr liegen die Gebeine von rund 40.000 armenischen und aramäischen Völkermordsopfern.
Mehreren Hundertschaften renommierter, internationaler Wissenschaftler ist es zu verdanken, dass sich die traurige Realität des Genozids als internationaler Konsens durchgesetzt hat. Die osmanische Monoethnisierungspolitik erfüllte alle definitionsgemäßen Kriterien. Die wenigen Dutzend Wissenschaftler außerhalb der Türkei, die einen Völkermord verneinen, haben meist dubiose Verbindungen zu den drei größten türkischen Parteien (AKP, CHP, MHP) und deren Auslandsorganisationen. Darüber hinaus bauen ihre Argumentationen auf Dolchstoßlegenden und Verschwörungstheorien auf. Die klitzekleinen, teilweise wahren Kerne, die ihnen zugrunde liegen, ändern nichts an der Tatsache des Völkermordes. Zweifelsohne gab es regional organisiert, pro-russische armenische Widerständler. Ihre Existenz jedoch stellt die Tatsache des Genozids genauso wenig in Frage, wie der Kampf der Bielski-Partisanen im Baltikum, der Weißen Rose in Deutschland, der Résistance in Frankreich und Belgien oder der Jewish Brigade innerhalb der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg Zweifel an der Faktizität des Holocausts lassen.
Mehr als zwei Dutzend Staaten, die EU und die UN sowie die viertstärkste türkische Partei, HDP, haben dies durch Resolutionen bereits vor dem deutschen Bundestag anerkannt.
Alexandra Avakian / Ararat Magazine http://araratmagazine.org/2011/12/armenian-mass-grave-sites-may-become-victim-of-current-syrian-unrest/
Das Etikettenschwindelangebot der Türkei auf eine „unabhängige internationale Historikerkommission“ zu setzen
Ein beliebtes Argument der Völkermordsleugnung ist der Verweis auf das Angebot der türkischen Regierung, eine „unabhängige internationale Historikerkommission“ in ihren Staatsarchiven forschen zu lassen.
Selbst wenn sich unwahrscheinlicherweise erdrückende Indizienlast, dass die türkischen Staatsarchive bereinigt wurden, als falsch erweisen würden, wäre es mit der Unabhängigkeit einer solchen Kommission nicht weit her.
Internationale Historiker müssen im Studium zwei der drei Sprachen Latein, Altgriechisch und Sanskrit lernen. Die Sprache der türkischen Archive zählt weder zum Standardrüstzeug eines Historikers, noch ist sie einfach zu erlernen. Die Archivdokumente über das osmanische Reich sind in arabischen Buchstaben und altosmanischer Sprache geschrieben. Eine Abhängigkeit von staatlich kontrollierter Übersetzung durch die türkischen Behörden wäre daher unausweichlich.
Außerdem haben Analysen zahlreicher Augen- und Zeitzeugenberichte sowie Auswertungen von Dokumenten deutschen, US-amerikanischen, französischen, skandinavischen, russischen und vatikanischen Archiven längst klar den Völkermord des osmanischen Reichs bestätigt. Das ist seit Langem internationaler geschichtswissenschaftlischer Konsens. Im Jahr 2012 konnte Taner Akçam sogar in den türkischen Archiven forschen. Er kam zu dem Schluss, dass ein Genozid eindeutig vorliegt. Er stützt diese Schlussfolgerung auf Entdeckungen von Plänen der osmanischen Führung, die vorsahen in jeder Provinz einen Bevölkerungsanteil von mindestens 90% ethnischer Türken zu erreichen. Die verbleibenden 10% sollten nach und nach absorbiert und assimiliert werden. Kurden, egal ob Sunniten oder Aleviten, sah man damals als assimilierbar bzw. türkisierbar an. Christen und Yeziden hat man diese Möglichkeit abgesprochen. Daraus resultierten Plan und Beschluss der jungtürkischen Regierung eine systematische Vernichtung dieser Minderheiten in die Wege zu leiten.
Nach dem Völkermord ist vor dem Völkermord: Kurdenmassaker, Thrakienprogrome und Varlık Vergisi
„Mein Großvater erzählte mir diese Geschichte eines Pfarrers, der zu einem Kurden sagte, um ihn zu überzeugen ihn nicht zu töten: „Wir sind das Frühstück, ihr werdet das Mittagessen sein.“
Tatsächlich setzten Verfolgung und Massaker an Kurden ein, kurz nachdem die christlichen Minderheiten auf dem Gebiet der heutigen Türkei zu mehr als 95% zwangsenteignet und vernichtet oder vertrieben worden waren.
Von den 1930ern bis 2011 fanden zahlreiche Massaker statt. Hier wären z.B. Zilan, Dersim, Maraş, Sivas, Gazi und Roboski ebenso wie die jüngsten Kriegsverbrechen in Städten wie Cizre oder Nusaybin zu nennen.
Allein 1938/39 wurden in der Provinz Dersim (türk. Tunceli) mehr als 30.000 kurdische Zivilisten alevitischen Glaubens massakriert.
Während der türkische Staat die ethnischen Säuberungen und Gräueltaten mit der Niederschlagung des „Seyit-Rıza-Aufstandes“ rechtfertigt und glorifiziert, gehen einige Historiker von einem anderen Grund aus. Ihrer Ansicht nach besteht ein starker Zusammenhang zum Völkermord an den christlichen Minderheiten. Denn gerade in der Provinz Dersim waren es alevitische Kurden, die gut 20 Jahre zuvor armenische und aramäische Flüchtlingen vor den Todesmärschen und Massenexekutionen der osmanischen Armee bewahrten. Ihre Rolle war damals eine Ähnliche, wie sie viele Niederländer im Zweiten Weltkrieg spielten, als sie zahlreiche Juden vor den Nazis versteckten, und so vor dem sicheren Tod bewahrten. Die Monoethnisierungspolitik der Türkei machte auch vor Juden nicht halt.
Die Thrakien-Progrome von 1934 und die, von 1942 bis 1944 erhobene, Varlık Vergisi zeugen davon.
Ein Jahr bevor Europas Juden unter den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 litten, wurden ihre thrakischen Glaubensbrüder in der Türkei Opfer rassistisch motivierter Progrome. Der traurige Höhepunkt der Massaker und ethnischen Säuberungen an den alevitischen Kurden von Dersim begann nahezu zeitgleich mit den Novemberpogromen der Nazis von 1938.
Neben ethnischen Säuberungen war der Gebrauch kurdischer Sprache und das Leben kurdischer Kultur in der Türkei mehr als acht Jahrzehnte lang gesetzlich verboten. Der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal hatte den Kurden einst weitreichende Autonomie versprochen. So gewann er sie erfolgreich als Alliierte für den Kampf, den die türkische Geschichtsschreibung als „Unabhängigkeitskrieg“ glorifiziert. Nachdem dieser Kampf erfolgreich gekämpft war, wollte Kemal nichts mehr von seinem Versprechen wissen. Er knüpfte stattdessen bei den Kurden dort an, wo die Jungtürken bei Armeniern, Aramäern, Pontosgriechen und Yeziden aufgehört hatten.
Die AKP-Regierung wurde lange dafür gelobt, dass sie, zumindest auf dem Papier, Reformen in die Wege leitete, um die rechtliche Gleichstellung der Kurden zu fördern. Kurze Zeit schien es, als sei man auf einem guten und versöhnlichen Weg.
Doch selbst wenn diese Reformen umgesetzt worden wären, hätten sie noch lange nicht ausgereicht um den Minderheitenstandards gemäß UN-Zivilpakt zu entsprechen. Mit dem Erstarken der, besonders in den Kurdengebieten der Türkei beliebten, Partei HDP und der Eskalation in Syrien, ist die türkische Regierung wieder auf vollen Konfrontationskurs gegangen. Sie hat im Südosten des Landes heute de facto einen weiteren Krieg gegen die bevölkerungsstärkste Minderheit des eigenen Landes vom Zaun gebrochen.
Eine richtige und wichtige Resolution
Wir haben es seit knapp 200 Jahren mit einer ethnozentrischen Politik zu tun, die kontinuierlich und unaufhörlich in massiven Verbrechen die Menschlichkeit ausartet. Auch die Versuche von türkischer Seite dies zu rechtfertigen sind stets gleich. Suarez hat hier uneingeschränkt Recht.
Um seine Weste reinzuwaschen, betreibt Ankara geradezu industrielle Geschichtsfälschung und Verbreitung von Verschwörungstheorien zum Zweck der Täter-Opfer-Umkehr. Die Angehörigen von vier kompletten Volksgruppen werden so stereotyp und faktenfremd als „Aggressoren“, „Terroristen“ und „Vaterlandsverräter“ (vatan hayni) gebrandmarkt und diffamiert. Letztere rassistische Diskriminierung findet sich auch gegenwärtig noch in offiziellen türkischen Schulbüchern zur Beschreibung der Aramäer.
Zählt man die spanische Militärdiktatur mit, gab es ähnliche Staatsdoktrin und ähnlich lange Geschichten von Progromen an Minderheiten ebenfalls bei vielen anderen ehemaligen Kolonialmächten bis Anfang der 1980er. Die Kontinuität bis in die Gegenwart macht den türkischen Nationalismus in seiner Beständigkeit und Rücksichtslosigkeit mittlerweile zu einem weltweit einzigartig negativen und blutigen Phänomen. Die Dimension der brutalen Monoethnisierungspolitik sucht gegenwärtig weltweit vergeblich ihresgleichen.
Eine derartige Form von Nationalismus gab es auch einmal in Deutschland. Gerade aber weil sich die überwältigende Mehrheit der deutschen Politik und Zivilgesellschaft davon losgesagt hat, hat der Bundestag das Recht und sogar die Pflicht eine moralische Vorbildfunktion zu erfüllen. Deutschland kennt seine Vergangenheit und ist heute ein anderes Land, in dem mehr als acht Dutzend Nationalitäten friedlich miteinander leben. Die Türkei hingegen versucht krampfhaft ihre Vergangenheit zu fälschen. Wozu das führt, können uns derzeit die Bewohner von Städten wie Cizre oder Nusaybin am besten erzählen. Nicht wenigen von ihnen geht es heute, wie bereits vor 200 Jahren dem griechischen Mädchen aus Victors Hugos „Les Orientales“.
Die Völkermordresolution vom 02.Juni war ein wichtiger und richtiger Schritt!
Das gilt auch aus integrationspolitischer Sicht und im Sinne eines friedlichen, vielfältigen Miteinanders. Addiert man die, in Deutschland lebenden Armenier, Aramäer, Griechen und Yeziden kommt man auf gut 600.000 Menschen. Die Bundestagsresolution ist für sie ein wichtiges Signal. Schließlich stehen sie angesichts einer immens einflussreichen, aktiven und provokativen Leugnungsindustrie unter starkem Druck, sich immer wieder für das Schicksal ihrer Vorfahren rechtfertigen zu müssen. Zahlreiche, unmittelbar von Ankara aus finanzierte und koordinierte, Organisationen, wie z.B. die UETD, die TGB oder die DITIB sorgen als Importeure türkischer Staatsdoktrin dafür. Schaut man sich beispielsweise Arbeit und Zusammensetzung der Integrationsräte an, dann ist es in keinster Weise übertrieben, von einer stark unverhältnismäßigen Türkisierung deutscher Integrationspolitik und Marginalisierung vieler anderer Einwandergruppen zu sprechen.
Dank der Bundestagsresolution werden z.B. die rund 120.000 Armenier in Deutschland etwas befreiter über die Jazzszene in Yerewan, Granatapfelwein, Konyak, Baden im Sewansee, den Volkstanz Kochari und das Potential Armeniens bei erneuerbaren Energien sprechen können. Die Rückendeckung des Bundestages nimmt ihnen ein Stück weit den Zwang, im Angesicht ständiger, gezielter, geschichtsrevisionistischer Leugnerprovokationen einschlägig bekannter Organisationen ihre Kultur auf den Völkermord an ihren Vorfahren zu reduzieren.
Literaturgrundlagen und -empfehlungen zum Text
- Doumanis, Nicholas: Before the Nation: Muslim-Christian Coexistence and its Destruction in Late-Ottoman Anatolia.
- Alexander Laban Hinton, Thomas La Pointe, Douglas Irvin-Erickson (Eds.): Hidden Genocides: Power, Knowledge, Memory.
- Kostos, Sofia Kontogeorge (Ed.): Before the Silence: Archival News Reports of the Christian Holocaust That Begs to be Remembered.
- Üngör, Uğur Ümit; Polatel, Mehmet: Confiscation and Destruction: the Young Turk Seizure of Armenian Property.
- The Asia Minor Catastrophe and the Ottoman Greek Genocide: Essays on Asia Minor, Pontos und Eastern Thrace, 1912-1922.
- The Slow Disappearance of the Syriacs from Turkey: And of the Grounds of the Mor Gabriel Monastery.
- Taner Akçam: Young Turks’ Crime Against Humanity: The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire.
- Raymond Kevorkian: The Armenian Genocide: A Complete History.
- Dündar, Fuat: Crime of Numbers: The Role of Statistics in the Armenian Question (1878-1918).
- Sarafian, Ara: Talaat Pashas Report on the Armenian Genocide, 1917.
- Besikci, Ismail; International colony Kurdistan.
- Besikci, Ismail; Tunceli Kanunu ve Dersîm Jenosidi (only in Turkish language; “The Tunceli law and the Dersim genocide”)
- Besikci, Ismail; Wir wollen frei und Kurden sein – Brief an die UNESCO (in German language “We want to be free and Kurds – letter to the UNESCO”)
- Hans-Lukas KIESER; Dersim Massacre, 1937-1938.
- Êzîdî Press vom 24.04.2014: „Völkermord an den Armeniern: „Der Schmerz der Armenier ist auch unser“
- Ararat Magazin vom 16.12.2011: „Syria and the Mass Graves of the Genocide“
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