Beinahe vier Monate dauern die Angriffe Bakus auf die armenische Enklave Bergkarabach nunmehr an. Der Krieg scheint den zu erwartenden Verlauf zu nehmen. Die Armenier der Region werden zusehends in die Defensive gedrängt und haben der hochmodernen Drohnentechnologie des ölreichen Aserbaidschan (mehr als drei Mal so viele Einwohner wie Armenien und ein Militäretat, der in etwa dem kompletten armenischen Staatshaushalt entspricht) wenig entgegenzusetzen. Noch dazu bekommt das Aliyew-Regime bei seinem Feldzug entschiedene Unterstützung von der Türkei, die nicht nur die zweitgrößte Armee der NATO unterhält sondern auch inoffiziell diverse dschihadistischer Brigarden in Syrien befehligt. Angesichts dieser Übermacht sind bereits mehr als 2/3 der Zivilbevölkerung Bergkarabachs geflohen. Für die Zurückgebliebenen, meist weit im letzten Lebensdrittel angekommenen Bewohner, sind angesichts fortwährender Angriffe die Bunker zu tristen Lebensmittelpunkten geworden.
Im Bewusstsein darüber und unter dem Eindruck der jüngsten islamistischen Terrorakte gegen den Lehrer Samuel Paty und in der Kathedrale Notre-Dame von Nizza, haben sich nun mehr als 40 französischsprachige Intellektuelle, darunter prominente Schriftsteller, Wissenschaftler und ehemalige Politiker an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron gewendet. In einem offenen Brief (nachstehend in deutscher Übersetzung veröffentlicht) flehen sie ihn an den Armeniern Bergkarabachs zu helfen, deren nacktes Überleben in diesem Moment akut durch die türkisch unterstützte Militäroffensive Bakus bedroht ist.
Angesichts der entsetzlichen Ermordung eines Lehrers und des kurz darauf folgenden Attentats in dieser Kirche in Nizza, zeigen sich die Französinnen und Franzosen verblüfft, empört und erschüttert. Sie fragen sich, was die Quellen dieser Barbarei sind und wie man ihr ein Ende setzen kann. Währenddessen spielt sich zeitgleich, 3500 Kilometer von zu Hause entfernt, ein weiteres Drama ab. Dort ist dieselbe Barbarei im Gange.
In Bergkarabach bzw. Arzach, so der armenische Name, werden ebenfalls Enthauptungen durchgeführt. Seit einem Monat führen die Armenier dort einen dramatisch ungleichen und verzweifelten Kampf gegen eine türkisch-aserbaidschanische Koalition, die von Hunderten von dschihadistischen Söldnern unterstützt wird. Diese Angelegenheit ist nicht nur ein entfernter Territorialkonflikt um ein paar Hektar Kieselsteine, die mitten im Kaukasus verloren gegangen sind. Es betrifft uns alle. Die Armenier kämpfen gegen den gleichen Feind.
Wie auch der Angriff auf einen Lehrer oder eine Kirche hat die von Aserbaidschan auf Initiative der Türkei gegen die Armenier gestartete Offensive dieselbe symbolische Dimension, die über den sichtbaren Gräuel der Verbrechen hinausgeht. Seit Jahrhunderten, vielleicht seit dem Regenbogen über dem Berg Ararat, der das Ende der Sintflut ankündigte, stellen die Armenier eine Brücke zwischen den Zivilisationen dar, die über zeitliche Epochen und Grenzziehungen hinüber führt.
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Im 5. Jahrhundert erhielten die Armenier für ihre Zugehörigkeit zur ersten christlichen Nation der Welt und als Hüter des Grabes Christi ein eigenes Viertel in Jerusalem
Man sagt, dass ihre Sprache alle bekannten Phoneme umfasst, weshalb die Armenier musikbegabt und oft mehrsprachig sind. Ist es ihre Vorbestimmung oder ist es ihre Geschichte, die diese Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Völkern geprägt hat? Im 5. Jahrhundert erhielten die Armenier für ihre Zugehörigkeit zur ersten christlichen Nation der Welt und als Hüter des Grabes Christi neben Juden, Muslimen und anderen Christen ein eigenes Viertel in Jerusalem. Diese Nachbarschaft besteht noch heute.
Die geographische Lage Armeniens bewirkte, dass es aufeinanderfolgenden Herrschaften und Einflüssen unterworfen war - Griechen, Römer, Parther, Perser, Mongolen...
Im 11. Jahrhundert zwang seine fortschreitende Annexion zunächst durch die Byzantiner, dann seine Eroberung durch die Türken einen Teil der Bevölkerung ins Exil. Wo auch immer sie sind, Generation um Generation haben sich die Armenier in verschiedene Nationen integriert, ohne ihre Wurzeln zu vergessen, ohne ihr Land zu vergessen, das nach und nach immer weiter verstümmelt wurde. Armenier waren Kaiser von Byzanz, Wesire der Kalifen Ägyptens, Minister des persischen Königreichs, Militärführer der indischen Radschahs, Diplomaten der Osmanen und ruhmreiche Generäle des russischen Zarenreichs.
Obwohl sie seit dem vierzehnten Jahrhundert eines Nationalstaates beraubt waren, haben sich die Armenier, deren Gebiet sich seit jeher an der Kreuzung zwischen Europa und Asien befand, in der Geschichte immer als Vermittler zwischen Ost und West hervorgetan, zwischen Völkern verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen, auf den Seiden- und Gewürzrouten, im Nahen Osten und im Indien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.
Sie wussten, wie man in Frieden mit katholischen und orthodoxen Christen, schiitischen und sunnitischen Muslimen, Juden, Hindus und Zoroastrern leben konnte. Ihre große Diaspora lebt in Moskau wie auch in Los Angeles, in Teheran, Marseille und Paris, in Beirut und Buenos Aires, in Warschau und Montreal. Sie bildet ein interkontinentales Netzwerk, das durch unzertrennbare Bande zwischen Länder knüpft und jenseits von Konflikten oder politischen Regimen Bestand hat.
Unter all diesen Verbindungen gibt es gibt es eine besonders privilegierte mit Frankreich, die bereits seit dem 6. Jahrhundert belegt ist. Das ist nie bestritten worden. Unumstritten in unserer Geschichte sind die armenischen Botschafter innerhalb der vom Kalifen Haroun-al-Rachid zu Karl dem Großen entsandten Delegation, die zur Wiederbelebung des Handels mit dem Osten von Colbert nach Marseille eingeladenen Kaufleute, Roustam Raza der armenische Mameluke und Leibwächter Napoleons I., die armenische Legion die zwischen 1916 und 1920 unter französischer Flagge tapfer im Nahen Osten kämpfte, und die Zehntausenden von Flüchtlingen, die nach der Tragödie von 1915 Frankreich zur neuen Heimat ihres Herzens erkoren.
1915: Eineinhalb Millionen Armenier kommen um. Sie fallen einer Türkei zum Opfer, die sich ultranationalistischer Hysterie hingegeben hat.
Seit fast zweitausend Jahren sind die Armenier Beschützer und Wächter. Wenn also ein solches Brückenvolk bedroht ist, versiegt der Dialog zwischen allen Völkern, entsteht ein sich ausdehnender Bruch in der Weltgeschichte.
1915: Trotz der Entrüstung in weiten Teilen Europas und der Vereinigten Staaten kommen eineinhalb Millionen Armenier um. Sie fallen einer Türkei zum Opfer, die sich ultranationalistischer Hysterie hingegeben hat. Was folgte war Gleichgültigkeit aufgrund der damaligen geopolitischen Umwälzungen. Diese Gleichgültigkeit ermutigte Hitler kurz vor Beginn des Holocaust bei der Ausarbeitung seines schrecklichen Arisierungsplans zur Aussage: « Wer erinnert sich an die Massaker an den Armeniern? » Die Armenier sind ein Brückenvolk zwischen den Völkern, an dem ein unbeschreibliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde, das zur Schaffung des juristischen Begriffs Völkermord führen sollte.
Kann man einen Diktator ankündigen lassen, dass er den "Resten des Schwertes", also den Nachkommen der Überlebenden von 1915, ein Ende setzen wird?
Ist es möglich, in dieser schweren Stunde, in der unsere wesentlichsten humanistischen Werte zerschlagen werden, einen Diktator verkünden zu lassen, dass er den "Überresten des Schwertes", also den Nachkommen der Überlebenden von 1915, ein Ende setzen wird? Können wir uns in dieser schweren Stunde, in der die Grundfesten unserer Republik angegriffen werden, mit ein paar Protesten zufrieden geben, wenn eine junge demokratische Republik, für die Frankreich immer eine Inspiration war, zwei Diktaturen gegenübersteht?
Die jüngsten Ereignisse haben Präsident Macron dazu veranlasst, eine entschiedene Haltung gegenüber der Türkei einzunehmen. Aber Frankreich muss seine Stimme im Konzert der Nationen höher erheben, um die Armenier Arzachs zu schützen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung in einem Land zu verteidigen, das sie seit der Antike bewohnen. Wenn Frankreich dieses jahrhundertealte Bündnis verrät, wenn wir diese Brücke brennen lassen, wenn wir nicht den Mut haben, uns nach außen klar gegen die Plage des Fanatismus zu positionieren, die uns im Inneren trifft, was werden wir dann unseren Kindern sagen? Dass wir nur Kerzen angezündet und Blumen niedergelegt haben?
Jérôme Attal
Stéphane Bern
Emmanuelle de Boysson
Nathalie de Broc
Pascal Bruckner
David Camus
Mireille Calmel
Virginie Carton
Françoise Chandernagor
Paule Constant
Marie-Do Chaize
François de Closets
Vincent Crouzet
Xavier Darcos
Didier Decoin
Marina Dédéyan
Arnaud Delalande
Olivier Delorme
Carole Duplessis-Rousée
Catherine École-Boivin
Franck Ferrand
David Foenkinos
Sophie Fontanel
Lorraine Fouchet
Franz-Olivier Giesbert
Catherine Hermary-Vieille
Alexandre Jardin
Michèle Kahn
Yann Keffelec
Philippe Labro
Thibault de Montaigu
Erik Orsenna
Gilles Paris
Jean-Marie Rouart
Bernadette Pecassou-Camebrac
Patrick Poivre d’Arvor
Michel Quint
Tatiana de Rosnay
Gilbert Sinoué
Akli Tadjer
Valérie Toranian
Tigrane Yegavian.
Auch interessant zum besseren Verständnis der Thematik:
"Waiting for Friendship" ist ein sehenswertes Werk von Silvina Der Meguerditchian, denn es arbeitet vor allem zwei Sachverhalte sehr gut heraus, die in der westlichen Welt weitgehend unbekannt, aber für das Verständnis des derzeitigen Krieges um Arzach / Bergkarabach essentiell wichtig sind:
1. Die Armenier wollen auf jeden Fall verhindern, dass Arzach / Bergkarabach ein zweites Nachitschewan und Stepanakert oder Schuschi zu einem zweiten Culfa werden.
2. Warum die Erfahrungen der Causae Akram Aylisli und Ramil Səfərov verheißen, dass armenisches Leben unter der dem aserbaidschanischen Aliyew-Regime unmöglich sein wird.