Die Unkultur des Moralisierens verwischt die Qualität von Meinungen und gefährdet die Demokratie!

„Der FC Schalke 04 ist scheiße! Borussia Dortmund ist geil!“

Dieser und ähnliche Sätze fallen unter Fußballfans so und in umgekehrter Fassung zigtausend Mal im Jahr. Eine Meinung ist dieser Satz allemal. Bloß wie ist es um die Qualität dieser bestellt?

Qualitäten einer Meinung

Bleibt dieser Satz ohne Begründung stehen, ist die Qualität der Meinung als schwach bis inakzeptabel einzuordnen.

Wird der Satz lediglich mit einem „…, weil ich das so empfinde“, „…, weil das meine Meinung ist“ oder „…, weil alle die anders denken unmenschliche Unmenschen sind“ begründet, bleibt die Qualität der Meinung schwach, weil sie auf nichts anderem als einer Emotionalisierung beruht.

Wird der Satz mit einem „…, weil alle Schalke Fans hässliche Kackbratzen sind“ oder „…, weil alle Schalke Fans Arschlöcher sind“ oder „…, weil alle Schalke Fans keinen Schulabschluss haben“ begründet, bleibt die Qualität der Meinung schwach, weil sie nur durch ein argumentum ad hominem, also einem Angriff auf die persönlichen Umstände oder Eigenschaften des vermeintlichen Gegners, (pseudo)legitimiert wird.

Wird der Satz durch „Pommes rot-weiß schmecken doch auch besser als gegrillter Nilpferdarsch“ begründet, bleibt die Qualität der Meinung weiterhin schwach. Kulinarische Vorlieben stehen in keinerlei kausalem Zusammenhang zur Bewertung von Fußballvereinen. Die Aussage kann nicht näher begründet werden, also greift man zum Themenwechsel.

Wird der Satz auf Nachfrage mit „Der FC Nürnberg ist ja wohl auch besser als Bayern München“ gerechtfertigt, so ist die Qualität der Meinung schwach. Als Begründung wird Whataboutism angewendet.

Die Qualität der Meinung steigt, wenn eine fundierte in sich geschlossene Argumentationskette gebildet werden kann, die dem bevorzugtem Verein Vorzüge in bzw. punkto Tradition, Erfolg, Vereinspolitik (z.B. Wirtschaftlichkeit, Transfermanagement) und Fanarbeit –kultur attestieren kann.

Weniger banal und politisch ungleich brisanter wird die Frage nach der Qualität von Meinungen vor dem Hintergrund der Ereignisse der Kölner Silvesternacht, der Flüchtlingskrise und Tabuisierungen in der sogenannten „Islamdebatte“.

Ulusoy, Kiyak, Weisband

So übt sich die, lt. ihrem Twitterprofil selbsternannte „Kopftuchjuristin“ Betül Ulusoy kurz nach der Kölner Silvesternacht in reinstem Whataboutism. Ihre These ist, dass auf jedem Volksfest und Musikfestival schlimmere Auswüchse sexueller Gewalt stattfinden würden. Ungeachtet der Tatsache, dass sie hier ein typisches Stilmittel qualitativ schlechter Meinungen anwendet, finden ihre Ausführungen viel Zuspruch und Nachahmer.

Publizistin und Schriftstellerin Mely Kiyak nimmt sich zunächst die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder vor. Als Antwort auf Schröders Forderung nach einer ehrlicheren Debatte über islamistischen Extremismus, kontert Kiyak mit dem, eine schlechte Meinung auszeichnenden, argumentum ad hominem. Auf Schröders Forderungen, und wie sie diese ausführt und begründet, möchte Kiyak nicht eingehen. Das gibt sie sogar offen zu. Sie macht es sich ganz einfach, und schreibt einen Artikel den man in zwei Sätzen zusammenfassen kann: „Kristina Schröder ist eine christliche Fundamentalistin. Deshalb hat sie sich ruhig zu verhalten.“ Der ideologisierte und moralisierte Maulkorb ist verteilt. Nächstes Opfer Kiyakscher persönlicher Angriffe ist Grünen-Politiker Boris Palmer. Aufgrund seiner kommunal fokussierten Positionen zur Einwanderungsgspolitik der Bundesregierung unterstellt sie ihm im Stile eines „Studienabbrechers“ und „DDR-Grenzers“ zu agieren. Die offensichtliche Unfähigkeit auf der Sachebene zu argumentieren, versucht Kiyak offensichtlich durch persönliche Verrisse zu kompensieren.

Marina Weisband, ehemalige Streiterin für mehr Freiheit im Internet, schäumte kurz nach der Kölner Silvesternacht vor Empörung und Emotionalisierung. Sie unterstellt sie jedem, der die Vorfälle mit der Regierungspolitik in Verbindung bringt, ein rechtsradikaler Unmensch, Brandstifter und Straftäter zu sein, vor dem man „Angst“ haben müsse. Dass die Wechselwirkungen zwischen den Feldern Gesellschaft, Politik und Religion allgemeingültiger soziologischer Konsens sind, interessiert sie dabei nicht. Sie kriminalisiert und emotionalisiert durch maßlose Übertreibungen. Sie führt einen rhetorischen Artillerieangriff durch, weil einige User, die sie abonniert hat, Likes an Stellen setzen, die nicht in ihr Weltbild passen. Den Versuch sie inhaltlich zu widerlegen scheut sie. Sie zieht die Emotionalisierung vor.

Ihr Aufruf bei Facebook zur Entfreundung bei Regierungskritik findet enorme Zustimmung und sehr viele Nachahmer. Sie arbeitet mit wesentlichen Stilmitteln qualitativ schlechter Meinungen. Darüber hinaus installiert sie ein Druckmittel; Androhung und Aufruf zu sozialer Isolierung bei nicht-systemkonformer Meinungsäußerung. Angesichts derartiger Methoden ist es verständlich, dass bei vielen Menschen der Eindruck schwindender Demokratie entsteht.

Laras, Sander und Giordano

Was Ulusoy, Kiyak, Weisband und all ihre Fürsprecher machen, und vor allem wie, führt uns zu drei Denkern aus Theologie, Politikwissenschaft und Philosophie, die vor solcher Methodik warnen.

Der Nachkomme von Holocaustüberlebenden und ranghöchste italienische Rabbiner, Dr. Giuseppe Laras, kritisiert einen „hinterhältigen Totalitarismus politischer Korrektheit“ in westeuropäischen Gesellschaften scharf. Die Quintessenz seiner Position ist, dass sich zu viele Menschen in Unkenntnis und / oder Ignoranz gegenüber der Geschichte sephardischen Juden und orientalischen Christen zu Themen äußern, die man ohne diesen Kontext schlichtweg nicht verstehen kann.

(Leseempfehlung: Flucht aus Europa – Die neue Judenfeindlichkeit des alten Kontinents)

2012 bereits griff der international renommierte Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Sander dasselbe Thema auf. Auf Begrifflichkeiten zur Charakterisierung der Jakobinerherrschaft anspielend, warnte er vor einem sich ausbreitenden „Tugendterror“.

(Leseempfehlung: Prof. Wolfgang Sander: Sarrazin, die halböffentliche und die veröffentlichte Meinung)

Ralph Giordano, Holocaustüberlebender, hat bereits vor acht Jahren vor aktuell immer problematischer werdenden Entwicklungen durch inakzeptable Tabuisierungen gewarnt.

(Leseempfehlung: Offener Brief von Dr.phil.hc. Ralph Giordano an den Oberbürgermeister der Stadt Köln vom 15.Februar 2008)

Keiner dieser klugen, universalgebildeten Köpfe ist dem rechten Spektrum zuzuordnen. Weil man ihren gesellschaftstheoretisch und historisch klug hergeleiteten Argumenten aber nichts außer Emotionalisierungen, persönlichen Angriffen, Themenwechseln und Whataboutism entgegenzusetzen hat, versucht man ihre Positionen mit inhaltsleeren, floskelhaften Moralkeulen aber genau dorthin zu prügeln.

Wer ist eigentlich objektiv, rechts oder links?

Wie erwähnt, ist es unter Soziologen und Politologen Konsens, dass Kultur, Religion und Gesellschaft in ständiger Wechselwirkung zueinander stehen. Folglich ist es natürlich, und ohne Wenn und Aber, ein legitimer und logischer Ansatz, Phänomene und Ereignisse, und erst recht Massen- und Gruppenphänomene, durch die religiösen und soziokulturellen Hintergründe der Beteiligten zu erklären. Aus diesem Forderungen und Konsequenzen abzuleiten ist ebenso logisch und legitim. Wer hier aus ideologischer Überzeugung versucht delegitimierend einzugreifen, ist deutlich weniger demokratiekompatibel als jemand, der von o.g. Konsens ausgeht.

Selektive Wahrnehmung ist etwas, dessen sich kein einziger Mensch erwehren kann. Der Homo Sapiens ist immer ein rationalisierendes, niemals jedoch ein rationales Wesen. Jeder, ob er es zugibt oder nicht, braucht Kategorien und konstruiert so ein individuelles Weltbild, das kein Zweiter 1:1 besitzt. Egal wie sehr wir es leugnen und versuchen von uns zu weisen, niemand und keine Meinung auf dieser Welt ist 100%ig objektiv. Um den eigenen Rationalisierungen und Selektionen Gewicht bzw. Qualität zu verleihen, ist das Schwingen von Ideologie- und Moralkeulen ein denkbar schwaches Mittel. Idealerweise geschieht dies vielmehr durch die Kombination von direkten persönlichen Erfahrungen (selbst erlebt), indirekten persönliche Erfahrungen (z.B. Bericht aus Freundes- und Bekanntenkreis) und wissenschaftlichen Erkenntnissen (aus z.B. Geschichtswissenschaft, Soziologie, Theologie, Politologie, etc.).

Aktuell besteht eine Tendenz, Meinungen nach vermeintlicher politischer Färbung zu bewerten. Dieses in der Tat autoritäre Schema des Moralisierens entbehrt jeder Differenziertheit und Kontroversität. Es kann so niemals Bestandteil einer wirklich demokratischen Debattenkultur sein. Aus gutem Grund prangert Dr. Giuseppe Laras das „Abtöten eines gesunden Dissens durch intoleranten politisch korrekten Konformismus“ an. Was rechts oder was links ist, wird ohnehin je nach Land und Kulturkreiskreis anders kategorisiert. Nicht selten kommen in Deutschland die größten Fürsprecher von Aktivisten, die in ihren Herkunftsländern rechtskonservativ bis rechtsradikal sind, aus dem linken Parteien- und Meinungsspektrum. Die bereits angesprochene Betül Ulusoy ist dafür ein gutes Beispiel. Sie unterhält enge Kontakte zu UETD und DITIB. Beide Vereinigungen stehen in direkter Verbindung und Abhängigkeit zum türkischen AKP-Regime. Sie sind die Ableger einer Partei, die zum Einen eine Form von religiösen Fundamentalismus vertritt, wie ihn die deutsche Parteienlandschaft nicht mehr kennt, seitdem die Zentrumspartei mit dem Ende der Weimarer Republik in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Sie sind die Ableger einer Partei, die zum Anderen einen mit dem angesprochenen religiösen Fundamentalismus kombinierten Rechtsnationalismus propagiert, der in punkto Intensität die österreichische FPÖ und den französischen Front National übertrifft. In Deutschland allerdings erntet Ulusoy vor allem von Mitte-Links und Links Applaus und Unterstützung. Das deutsche Linksspektrum, insbesondere die Sozialdemokratie, übernimmt paradoxerweise seit Jahren vermehrt Rhetorik und Meinungen aus einer politischen Richtung, von der sich das liberale und linke Spektrum des Orients versucht frei zu schwimmen. Ulusoy und ihre auf Whataboutism begründete Argumentation in der Causa Köln sind diesbezüglich nur ein Beispiel von vielen.

Festzuhalten bleibt in jedem Fall: Ob eine Meinung ideologisch vermeintlich rechts, vermeintlich links oder in einer sonstigen ideologischen Richtung zu verorten ist, spielt für ihre Qualität keine Rolle. Die Qualität einer Meinung steht und fällt mit der ihr zugrunde liegenden Argumentationskette. Seit fast einem Jahrzehnt findet eine Tendenz statt, die Debattenkultur ungeachtet logischer Argumentationsketten immer stärker moralisieren zu wollen. Diese Tendenz nimmt immer radikalere Züge an, verhärtet bestehende Fronten zusätzlich, und ist in Europa z.Zt. eine große Gefahr für die Demokratie.

Nota bene

Zusätzlich zum Text und dessen besseren Verständnis sei dieses Video des gesellschaftskritischen australischen Comedians Neel Kolhatkar empfohlen. Die Metaphorik der darin dargestellten Distopie passt sehr gut zur Botschaft des Textes.

3
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

hellboy

hellboy bewertete diesen Eintrag 22.02.2016 00:41:44

Aysel Stern

Aysel Stern bewertete diesen Eintrag 21.02.2016 08:29:49

Marian Eisler

Marian Eisler bewertete diesen Eintrag 20.02.2016 19:25:40

3 Kommentare

Mehr von Julian Tumasewitsch Baranyan