Europa will nicht wahrhaben, dass es Feinde hat, die seine Zerstörung wollen

"Ich denke, dass der Erste und Zweite Weltkrieg zwei große Traumata für die europäische Identität darstellen.

Die Europäer sind des Krieges und des Kämpfens müde.

Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie Feinde haben, die sie zerstören wollen. Ich kann Ihnen sagen, dass viele Menschen im Vatikan mir in Gesprächen unter vier Augen gestehen, dass ihre größte Sorge darin liegt, dass der radikale Islam den alten Kontinent erobern wird. Doch in Europa will niemand darüber nachdenken. Die Meisten bevorzugen es, wie Strauße die Köpfe in den Sand zu stecken."

Das sagt nicht irgendjemand, sondern Rabbi Eugene Korn.

Rabbi Eugene Korn; Youtubescreenshot https://www.youtube.com/watch?v=7g1rxi4-uG0

Rabbi Korn, Jahrgang 1947, ist Direktor des Zentrums für jüdisch-christliche Verständigung und Zusammenarbeit in Jerusalem. In seinem 2014 veröffentlichten Werk "Ripensare il cristianesimo" (zu deutsch: "Das Christentum neu denken“; EAN / ISBN: 9788810207109) mit Vorwort von Italiens wichtigstem jüdischen Geistlichen Prof. Giuseppe Laras geht er ausführlich auf den, so schreibt er wortwörtlich, "in der arabischen Welt vorherrschenden Antisemitismus“, ein.

Das eingangs genannte Zitat stammt aus einem Interview, das Emanuele Boffi Anfang September 2016 mit ihm für die italienische Wochenzeitung "Tempi" führte.

Es eröffnet Perspektiven, wie man sie in mittel- und nordeuropäischen Medien selten bis gar nicht zu hören und lesen bekommt. Es geht um den Dialog zwischen Juden und Christen, das Existenzrecht Israels und dessen aktuelle europäische Wahrnehmung und das europäische „Vogelstraussverhalten“ gegenüber islamistischem Extremismus und Attentaten. Ein Verhalten, das man in Europa auch gegenüber der dramatischen Situation der syrischen Christen pflegt. Außerdem antwortet Rabbi Korn auf die Frage, ob, wie einige insbesondere französische Intellektuelle immer wieder fordern, „radikaler Säkularismus“ die Antwort auf religiösen Extremismus sein kann.

Bezüglich des Dialogs zwischen Christen und Juden, streicht Korn bereits zu Beginn heraus, dass es in Europa und auch bzw. gerade bei vielen Kirchenvertretern nicht gelungen sei, die Bedeutung des Staates Israel als religiöses Refugium der Juden zu verstehen. Um dies zu verstehen, müsse man sich das Verhältnis klar machen, dass es weltweit 1,4 Milliarden Katholiken, aber gerade einmal 12 bis 13 Millionen Juden gibt. Wenn man dann noch bedenkt, dass der Holocausts sechs Millionen Juden das Leben kostete, was knapp der Hälfte der heutigen jüdischen Bevölkerung weltweit entspricht, dann sollte jedem klar werden, wie wichtig ein eigener Staat Israel den Juden ist. Ohne einen solchen, wären sie immer und überall in der Minderheit und könnten sich im Ernstfall nicht verteidigen. Diesen Fakt müsse man sich auch innerhalb der katholischen Kirche klar machen. Heute ist man dort zwar weitestgehend von Standpunkten abgerückt, die noch vor 50 Jahren vertreten wurden, jedoch geschah dies in einem recht langsamen und holprigen Prozess. Damals stieß man im Vatikan noch auf zahlreiche Vertreter der Ansicht, die Juden seien zu christianisieren.

Bereits im ersten Satz seines Buches spricht Eugene Korn von einem "in der arabischen Welt vorherrschenden Antisemitismus". Als Boffi Rabbi Korn darauf anspricht verbindet er dies mit der Frage, was die abendländischen Menschen davon abhalte, die „tödliche Botschaft des islamisch geprägten Terrorismus“ zu verstehen. Korn antwortet wie folgt:

"Es ist unheimlich schwierig darauf zu antworten. Erstens liegt es sicherlich daran, dass Europa sich in einer Identitätskrise befindet. Ich denke, dass der Erste und Zweite Weltkrieg zwei große Traumata für die europäische Identität darstellen. Die Europäer sind des Krieges und des Kämpfens müde.

Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie Feinde haben, die sie zerstören wollen. Ich kann Ihnen sagen, dass mir viele Menschen im Vatikan in Gesprächen unter vier Augen gestehen, dass ihre größte Sorge darin liegt, dass der radikale Islam den alten Kontinent erobern wird. Doch in Europa will niemand darüber nachdenken. Die Meisten bevorzugen es, wie Straussen die Köpfe in den Sand zu stecken."

Den zweiten wesentlichen Grund sieht Rabbi Korn in der niedrigen Geburtenrate auf dem europäischen Kontinent. Diese reiche nicht aus, um die Überzeugung und den Glauben an die Errungenschaften der eigenen Kultur aufrecht zu erhalten.

Immer noch beim Thema islamistische Gewalt, erklärt Korn auch auf die nahöstlichen Kollaborateure des NS-Regimes anspielend, dass man im Zweiten Weltkrieg mit den Juden angefangen habe. Umgehend verweist er darauf, dass es aber nicht mit den Juden aufhören würde, sondern dass das Ziel darin bestünde auch die Bevölkerung des europäischen Abendlandes zu töten. Dabei müsse man betonen, dass es nicht allen Muslimen darum ginge, sondern einigen radikalen Dschihadisten, die dies sogar offen aussprechen.

Boffi wendet an dieser Stelle ein, dass viele nicht mit dieser Ansicht einverstanden wären. Rabbi Korn antwortet klug pointiert mit einem kurzen Erlebnisbericht.

Auf einem Kongress von Geistlichen und Theologen in Monaco, behauptete ein islamischer Imam aus Saudi-Arabien, es gäbe in seinem Land uneingeschränkte Religionsfreiheit. Dass es sich hier um eine veritable Lüge handelt, sollte wohl jedem klar sein. Mit Ausnahme eines einzigen griechisch-orthodoxen Priesters zogen es alle anderen 14 Teilnehmer vor zu schweigen, und diese offenkundige Lüge einfach zu ignorieren.

Hier haben wir es mit einem Verhalten und Vorfall zu tun, das geradezu symptomatisch und beispielhaft für das öffentliche Wegducken von vielen Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche vor islamistischem Fundamentalismus ist.

In Bezug auf dieses Wegducken, Boffi und Rabbi Korn sprechen ab hier von „Vogelstraussverhalten“, verweist der jüdische Geistliche auf den Hilfeschrei eines syrischen Bischofs in diesem Sommer an. So schrieb dieser: „Warum versteht ihr es nicht? Wir werden getötet. Wo seid ihr? Wir brauchen eure Hilfe. Wir müssen uns wehren können.“ Korn fügt hinzu: „Aber für sie kämpft niemand. Das ist sehr traurig.“

In seinem Buch greift Rabbi Korn den „postmodernen Säkularismus“ und „Relativismus“, die u.a. Gründe für die Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber dem Schicksal syrischer Christen darstellen, scharf an. Um diese gesellschaftlichen Entwicklungen kippen zu lassen, müssten sich Juden und Christen die Hände reichen, um so gemeinsam „die Welt besser zu machen“ und „das Unmögliche möglich zu machen“.

Der Theologe aus Jerusalem ist sich im Klaren darüber, dass dies sich gut anhört aber ein schwieriges Unterfangen darstellt. Über 1500 Jahre habe die Kirche schreckliche Verbrechen an Juden verübt. Jedoch habe sie sich geändert, auch wenn das eine sehr lange Zeit gedauert habe. Dies sei bereits ein „Wunder“, und es müsste weiter daran gearbeitet werden solche Wunder geschehen zu lassen. Dies sei nicht zuletzt die theologisch-spirituelle Pflicht aller Menschen, die an denselben Gott glauben.

In einem Interview von 2013 äußerte er sich bereits ähnlich über den jüdisch-christlichen Dialog

Zum Abschluss des Interviews geht es um die Frage, wie Rabbi Korn zur Reaktion vieler europäischer Intellektueller auf die islamistischen Attentate der letzten zwei Jahre in Frankreich, Belgien und Deutschland steht, Religion allgemein sei stets die Quelle von Gewalt und müsse deshalb aus allen Bereichen des öffentlichen Raums entfernt werden.

Korn bezieht dazu eine sehr klare Position. Der gesunde Mittelweg zwischen religiösem Extremismus und radikalem Laizismus sei der Glaube an einen Gott, der die Vielfalt liebt und toleriert. Im Judentum leiste man hier sehr gute Arbeit. Zwar schreibe das Judentum die eigene Religion als bestimmende Wahrheit vor. Jedoch lehre es auch, dass diese Wahrheit für Andersgläubige nicht bindend sei. Das Christentum habe es ebenfalls geschafft eine tolerante Religion zu werden. Nach Jahrhunderten als intolerante Religion, sei es gelungen, dass in beinahe allen Teilen der Welt keine Christen mehr im Namen ihrer Religion töten.

Diesen historischen Prozess habe der Islam noch nicht durchlaufen.

Die Absicht Religion völlig verbannen zu wollen, sei eine stets zum Scheitern verurteilte Illusion. Das beweise, dass sie den sowjetischen wie auch den chinesischen Kommunismus überdauert hat. Ein weiteres Beispiel, das Rabbi Eugene Korn in diesem Zusammenhang Recht gibt, ist die Tatsache dass sowohl Katholizismus im äußersten Norden des Landes als auch Islam in Albanien, wo Religion unter Enver Hoxha Jahrzehnte lang verboten war, lange nach Herrschaft und Tod des Diktators weiter gelebt werden.

12
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

harke

harke bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 18:04:43

Greifenau

Greifenau bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 16:06:26

Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 13:55:57

Aron Sperber

Aron Sperber bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 13:26:59

Kurmenistan News

Kurmenistan News bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 12:23:13

Grummelbart

Grummelbart bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 12:03:23

Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 08:22:11

Amadeus

Amadeus bewertete diesen Eintrag 29.10.2016 19:54:23

Hespera

Hespera bewertete diesen Eintrag 29.10.2016 18:10:05

martin.kussmann

martin.kussmann bewertete diesen Eintrag 29.10.2016 14:06:48

Claudia56

Claudia56 bewertete diesen Eintrag 29.10.2016 13:47:45

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 28.10.2016 18:27:35

13 Kommentare

Mehr von Julian Tumasewitsch Baranyan