Vor 70 Jahren erklärte sich Österreich als unabhängig. Im dritten Teil der Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs unterzeichnete die provisorische Regierung die sogenannte Regierungserklärung. Zum letzten Absatz ebenda frage ich mich schon länger. Im Schlusssatz heißt es dort bekanntlich: „und folgt in diesem Geiste willig Eurer Regierung!” Ist diese Forderung des damaligen provisorischen Staatskanzlers Karl Renner weitreichend von Bedeutung in der politischen Kultur? Dieser eine letzte Satz nach dem leidenschaftlichen Appell der motivierenden Imperative “Verzagt nicht! Fasset wieder Mut! Schließt euch zusammen zur Wiederaufrichtung eures freien Gemeinwesens und zum Wiederaufbau eurer Wirtschaft! Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist! - soll der etwa heißen “Oppositionsparteien haben ohnehin keine Chance”?
Die Idee einer Kompromiss- oder Konsensdemokratie anstelle einer Konfliktdemokratie leuchtet ein, sieht man historisch zurück, aber der Zwang zum Konsens durch das Regierungssystem, die proportionale Aufteilung der Republik auf zwei große Parteien, legt gleichsam einen relativ undemokratischen Grundstein. Fordert diese Zusammenraufpolitik blindes Vertrauen in die Regierung?
Exilpolitik, die gehegte und gepflegte Opferthese (immerhin ist in der Proklamation vom "macht- und willenlos gemachten Volk Österreichs die Rede), der Double-Talk und die Entnazifizierungsverfahren – all das hängt in diesen Tagen 70 Jahre später – zur kritischen Auseinandersetzung in der Luft. Das Dokument war schnell vergessen. Im Staatsvertrag wird es nicht erwähnt.
Am 28. April 1945 war der Text in der frisch gegründeten Tageszeitung "Neues Österreich" nachzulesen; zusätzlich wurden auch Plakate ausgehängt. Irgendwann dürfte man diese aber verschlampt haben und damit ist Österreich wahrscheinlich das einzige Land, das seine Unabhängigkeitserklärung weggeworfen hat.
Willig der Regierung folgen oder aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit heraustreten und sich selbst seines Verstandes zu einer starken Demokratie zu bedienen? Schließlich wird die Regierung nicht vom Volk gewählt (obwohl in Wahlkämpfen oft dieser Eindruck entsteht). In Österreich wird die Regierung vom Bundespräsidenten bzw. von der Bundespräsidentin ernannt. Der missverständliche Eindruck entsteht in der Wahlwerbung vor Nationalratswahlen, wenn Parteien ihre SpitzenkandidatInnen meist als mögliche Regierungschefitäten präsentieren.
Wenn wir die Zeilen der Unabhängigkeitserklärung heute wieder hervorkramen um sie endlich der notwendigen kritischen Betrachtung zu unterziehen, vielleicht könnte mir die eine oder andere Historikerin oder der eine oder andere Politologe erklären, als wie weitreichend man diesen Schlusssatz verstehen kann, wie prägend er für diese Republik war.