„Jeder sey auf seine Art ein Grieche! Aber er sey’s.“ (J. W. v. Goethe)

Die Mutter Österreicherin, der Vater Grieche, geboren und aufgewachsen in Schweden, studiert in den USA und nun in Berlin und Stockholm lebend. Der Schriftsteller Aris Fioretos  wird oft als Parade-Europäer bezeichnet, was immer das auch sein mag. Vordergründig ist er ein kluger Mensch, den man deshalb zum Gespräch über seine Lebensorte trifft. Über Griechenland, Deutschland und Heimat.

Wenn es einen Autor gibt, der den Lebenslauf mitbringt für einen Roman über Familien in der Diaspora, über Migration, Erinnerung und Fremdsein, dann sind Sie es. Wie ist es in so gemischtkulturellem Background aufzuwachsen?

Kinder aus mehreren Kulturen lernen meistens schnell, jede Geste, jeden Gegenstand und ganz bestimmt jeden Streitapfel aus verschiedenen Seiten zu betrachten. Das heißt, der Blick ist wenigstens doppelt, wenn nicht prismatisch, aber gleichzeitig auch gebrochen. Zwar sieht man differenzierter als die monokulturellen Kyklopen – dieses Zuviel ist jedoch zugleich ein Zuwenig. Was an Vielstelligkeit gewonnen wird, geht an Eindeutigkeit verloren.

Jeder, der in mehr als eine Kultur aufgewachsen ist, muss seine Balance finden. Für manche wird der Spagat zu einer Belastungsprobe, die sie zerreißt. Entweder solidarisieren sie sich mit der Heimatkultur der Eltern, was auf Kosten der Integration geht, oder sie erklären sich dogmatisch mit der neuen Kultur loyal, was auf die Kosten des Verständnis der Erfahrungen der Eltern geht. Ich hatte Glück. In meiner Familie wurden die unterschiedlichen Kulturen immer als Bereicherung gesehen. Dennoch dauerte es eine Weile, bis mir klar wurde, ich müsste mich nicht für ein Land oder eine Sprache entscheiden. Es gab keine eindeutige kulturelle Zugehörigkeit – na, und? Für mich besteht Identität in der Differenzerfahrung.

Sie sagten in einem Interview: “Aber Heimat? Das kann nur mein Schreibtisch sein. Ihn nehme ich überallhin mit, wie einen fliegenden Teppich mit vier Beinen.” – Teilen Sie die Vorstellung, dass es für Schriftsteller einen Ort, einen Fluchtort oder gar eine Heimat in der Sprache gibt?

Als Sohn eines Griechen und einer Österreicherin, der in Schweden geboren und aufgewachsen ist, der aber die letzten dreißig Jahren unter anderem in Frankreich, in den U.S.A. und in Deutschland verbracht hat, ist es mir nie gegönnt worden, ein Gespür für das, was unter „Heimat“ oder „Muttersprache“ verstanden wird, zu entwickeln. Bisher war eigentlich nur auf den Schreibtisch Verlass. Auch wenn er immer anderswo aufgestellt werden kann, an ihm ist nicht zu rütteln.

Wie sehen Sie die jetzige Entwicklung in Griechenland?

Um es in Farben auszudrücken: bräunliches Grau mit einem zarten, fast unsichtbaren Streifen von changierendem Rosa.

Noch immer bedienen sich die Medien des Klischees vom treuen Steuerzahler im Norden und vom faulen Steuerhinterzieher im Süden.

Was über „die“ Griechen bzw. „die“ Deutschen in den Zeitungen behauptet wird, spiegelt – dóxa tou theó – nicht unbedingt weder die Realität, noch die Gedanken der Leute wider. Nehmen Sie Merkel mit Hitler-Schnurrbart und Hakenkreuzbinde, oder den griechische Schlawiner, der erst um 11 Uhr vormittags in Flip-Flops zur Arbeit geht, um sich dann gleich in die Mittagspause zu verabschieden: Nicht einmal die gehetzten Redakteure der Boulevardblättern dürften an solche Klischees glauben.

Wie ist es um die Einstellung der Griechen gegenüber der Europäischen Union bestellt?

Der Politiker-Verdruss ist verheerend. Die gewählten Parlamentarier haben sich mit ihren Eines-sagen-und-selbst-etwas-anderes-tun-Strategien größtenteils unmöglich gemacht. Ob die alte staatsführende sozialdemokratische Partei, die PASOK, unter demselben Namen überhaupt überleben wird, ist beispielsweise alles andere als sicher.

Seit vier, fünf Jahren bricht die tragende Säule jeder halbwegs demokratischen Gesellschaft, die Mittelklasse, weg. Man sieht es besonders deutlich in den Städten, wo Menschen, die keine Olivenhaine oder Gemüsegarten in den Heimatdörfern ihrer Eltern besitzen, es besonders schwer haben. Die Reichen sind immer noch reich; die Armen werden stets zahlreicher, was jeder beobachten kann, der sich die Mühe macht, das Alltagsleben in den Wohnvierteln mitzukriegen. Suppenküchen stehen heute auf den Speiseplan vieler, die sich vor drei, vier Jahren nie in der Nähe einer solchen Einrichtung wähnten.

Wie schlägt sich das auf die politische Stimmung nieder?

Die Situation erzeugt ein politisches Klima, wo die einfachen oder pauschalisierenden Lösungen der extremen Linken oder noch extremeren Rechten Anklang finden. In einer Zeit, wo wirklicher gesellschaftlicher Erfolg nur durch eine kluge Solidaritätspolitik denkbar ist, hysterisiert sich die politische Öffentlichkeit. Alte Schablonen werden bedient; Schuldzuweisungen vergiften die Atmosphäre; die Jungen, die ihre Zukunft von der eigenen Elterngeneration kaputtgemacht sehen, fliehen ins Ausland. Viel Anlass zum Optimismus hätte nicht einmal der deutsche Philosoph, der einst behauptete, wir leben in der besten aller Welten.

Sie sprachen vorhin von der abgebröckelten Mittelklasse in Griechenland. Wie schlägt sich das auf die kreative Entwicklung nieder?

Ich bin kein Liebhaber der Idee, dass erst eine prächtige Krise die gute Kunst ermöglicht. Aber in der Tat fallen mir ein paar Anzeichen dafür auf, dass im Moment einiges in Griechenland los ist. Man nehme nur das Beispiel Kino. In den letzten Jahren gab es einige sehr gute Filme, die inhaltlich präzise und formal überraschend die griechische Gesellschaft analysieren. Giorgos Lanthimos ist ein solcher Regisseur. Er hat Dogtooth gemacht, den Sie vielleicht gesehen haben. Sein bisher letzter Film heißt Alps. Lanthimos war auch Produzent von Attenberg, den die RegisseurinAthina Tsangarigedreht hat.In allen drei Filmen geht es um das Bröckeln der patriachalischen Strukturen auf zum Teil sarkastische Weise, teils melancholisch gefärbt. Das alte Gesellschaftsmodell, das auf den Schultern eines starken Mannes ruht, galt  für die Eltern - die angeblich so antiautoritäre 1968er Generation, die im Falle Griechenlands eher der Generation Polytechneio-Aufstand 1973 entspricht. Dieses Modell ist ausgelaufen. Sie weckt kein Vertrauen mehr, sondern wird nur noch als korrupt gesehen. Ob die bitterböse, aber auch todtraurige Analyse der erwähnten Filme auch in der Literatur stattfindet, wage ich nicht zu sagen. Dafür fehlt mir die Belesenheit.

Es gibt wenige Überschneidungspunkte zwischen Deutschland und Griechenland. Wo liegt ihre gemeinsame Seele?

Auch den Liebhabern der Antike müsste es mittlerweile bekannt sein, dass Griechenland nie besonders viel mit den weißen Marmorsäulen und athletischen Jungen zu tun hatte, von denen Winckelmann oder Von Gloeden einst glühend träumten. Wenn Goethe in seinem Aufsatz über „Antik und modern“ behauptete, „Jeder sey auf seine Art ein Grieche“, meinte er sicherlich nicht, dass Bruno Kreisky oder Christina Stürmer ferne Anverwandte von Giorgos Papandreou oder Irene Skylakaki wären. Sondern, dass die Wertvorstellungen, die uns Europäer noch immer begleiten, griechischer Prägung sind – ja, sogar unsere Begrifflichkeit ist ohne die antike Philosophie kaum denkbar. Sollten Deutschland und Griechenland eine gemeinsame Seele haben, müsste man nach ihr in diesem Gewebe aus sittlichen Idealen, sozialen Vorstellungen und ästhetischen Kategorien fahnden. Viel Vergnügen bei der Suche!

Das Interview wurde bei der Veranstaltung Literatur&Wein (www.literaturundwein.at) geführt

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