Über das Recht und die Pflicht der freien Welt einer zivilisierten Verachtung
„Ich hab dein Posting gesehen und hab’s mir sofort bestellt.“ Für meine langjährigste Freundin reichte ein Posting aus, für andere die Kurzrezension im Falter und für ein paar mehr meine persönliche Empfehlung im Gespräch. Hat man es nämlich einmal gelesen und verinnerlicht, so ist man in Gefahr – in einer durchaus positiven Gefahr – das Konzept immer mitzudenken und in weiterer Folge eben auch davon zu sprechen. So ergeht es mir mit dem kürzlich erschienenen Buch „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit“. Eine ähnliche Wirkung hat vielleicht Karl Kraus’ Verhältnis zur Sprache. Das ist auch so ein Konzept, dass einem glücklicherweise picken bleibt.
Worum geht’s also diesmal? Um ein dünnes Büchlein mit der Freiheitsstatue am Cover und um eine ausgeklügelte Theorie im Buchinneren. Um ein Rückbesinnen auf das Toleranzprinzip der Aufklärung, um ein Relativieren von politischer Korrektheit und um das Gegenteil davon, nämlich eine Haltung der zivilisierten Verachtung.
Entweder wir richten Kritik gegen einzelne Menschen, deren Meinung wir nicht teilen oder wir dulden ihre Meinung und verstecken uns dazu hinter der political correctness. Beides ist nicht zielführend und zivilisiert, meint Carlos Strenger.
Toleranz kommt nicht vom toll finden, schreibt Meike Winnemuth und hat damit natürlich Recht und einen recht griffigen Subtitel gefunden, aber gerade deshalb muss man sich anschauen, wie die Toleranz in ihren Ursprüngen gemeint war. Mit political correctness war sie jedenfalls nicht gleichzusetzen. Der Imperativ der politischen Korrektheit bedroht die westlichen Grundwerte, befürchtet Carlo Strenger. Gelähmt davon, respektieren viele, was sie mit guten Argumenten als irrational, unmoralisch oder gar unmenschlich kritisieren sollten. In fetten Lettern Toleranz vor sich herzutragen ohne dahinter kritisch zu reflektieren, einzuschätzen und zu bewerten, was uns unter die Nase gerieben wird, bringt halt auch nix. Wir müssen lernen verantwortungsvoll unsere Meinung zu bilden und Ansätze, die rationell gegen unser liberales Weltbild sprechen, ablehnen. Andernfalls kommen uns Rechtspopulisten zuvor und das ist unlustig. Sie unterwandern und instrumentalisieren, das was sie für unsere Kultur als typisch beanspruchen mit unlauteren Mitteln. Lernen wir von Karl Kraus, dem das wohl für ihn Schlimmste und Zynischste passiert ist: Im Mund wurde ihm das Wort umgedreht. Die Sprache wurde ihm gestohlen, ausgerechnet von jenen gegen die er sie richtete.
Wir erleben seit einiger Zeit, wie Muslime jede Kritik am Propheten als Blasphemie verurteilen und dabei nicht vor Einschüchterung oder noch Schlimmerem zurückschrecken. Haben wir dann den Mut, uns wirklich für die Meinungsfreiheit stark zu machen? Obwohl wir mit unserem politischen System offenkundig so zufrieden sind, dass nur eine Minderheit an die Urnen geht, sind Freiheitsrechte auch heute unbequem. Sie verlangen, dass man sich zu ihnen bekennt und sich für sie einsetzt. Die umfassende Freiheit zur Meinung, Privatsphäre und all dem, was unsere Gesellschaft ausmachen sollte, ist harte Arbeit. Wenn wir sie nicht in unserem Verantwortungsbereich sehen, werden andere auf die Angriffe der liberalen Werte reagieren. Bevor wir das der hetzerischen unreflektierten Pegida-Masse überlassen, sollten wir handeln. Denn wie ich es verstehe, geht es um weit mehr als Aug um Aug und Zahn um Zahn. Die Verachtung, will sie zivilisiert und nach Strenger gehen, fällt nicht ein Todesurteil gegenüber dem Marathonattentäter in Boston. Mord mit Mord zu vergelten, dass ist vorzeitlich, ein Prinzip aus dem Alten Testament.
Die zivilisierte Verachtung beschreibt Strenger als die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Nach dem aufklärerischen Toleranzprinzip soll das Individuum geschützt werden, nicht der Glaube. Dazu braucht es verantwortliche Meinungsbildung, sowie die Kompetenz, mit Kränkungen umgehen zu können. Er untermauert mit historischem Wissen und Fallbeispielen von der Fatwa gegen Salman Rushdie über die Klimawandel-Verleugnung der US-Republikaner bis hin zum Israel-Palästina-Konflikt. Carlo Strenger ist Psychoanalytiker und Kolumnist, arbeitet in der Terrorismusforschung und lehrt; vor allem aber ist er ein scharfer Beobachter unserer Zeit. Damit sich die liberale demokratische Kultur kein Eigentor schießt, legt er ein durchdachtes und neuartiges Konzept für kritische Denker vor. Als notwendiges theoretisches Unterfutter und Zusatzunterhaltung spannt er dabei konsequent den Bogen zurück zu historischen Lehrstücken und den Anfängen der Aufklärung.