Carlos Castaneda lässt seinem Don Juan sagen, dass man besser mit leeren Händen einen Weg entlang gehen sollte. Auch sollte man dabei die Finger spreizen, um den dazwischen fließenden Windzug zu spüren.
So, wie Don Juan es empfiehlt, mache ich es öfters. Es kann ja nichts schaden. Niemand wird meine komische Fingerhaltung bemerken und so kann ich unbemerkt mir erdenken, wie Energie mich dabei durchdringt. Ich mache es nicht, weil ich davon felsenfest überzeugt bin, ich bin überhaupt kein Castaneda – Jünger. Ich mache es einfach nur, weil ich mich dann der Figur Don Juans nahe fühle und in der Phantasie mit ihm durch mexikanische Wälder streife, auf geheimnisvollen Pfaden wandere und selbst ein Stück dieser Romanfigur dabei werde.
Es ist der 11. April. Zum 10. April hatte ich mir vorgenommen eine Entscheidung zu fällen. Entscheidungen sind Gefängnisse – Nichtentscheidungen aber auch – und so ging ich spazieren in der Hoffnung die Gitterstäbe der Entschlüsse ein wenig auseinander biegen zu können.
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Die Sonne schien – das ist die Bedingung, damit sich irgendetwas in meinem Gefühl regen und vielleicht nach oben, in den Verstand, dem Zentrum der Entscheidung, dringen kann. Genaugenommen finden Entscheidungen im Solarplexus statt, dort entsteht ein spezieller Affekt, der mir kundtut, ob etwas richtig oder falsch ist. Logik ist kein guter Ratgeber, Vor – und Nachteile abzuwägen, heißt meist, sich gar nicht mehr zu bewegen. Ich mag lieber die Brüche; sie sind wie innere Revolten, sind wie Segel setzen durch stürmische Gefilden und hin zu einer neuen Morgensonne.
Gestern fragte mich ein Freund, was Glück bedeute und ich überlegte, ob es vielleicht eine Form von Verengung und Ausdehnung sei, vergleichbar mit der Bewegung des Herzens, der Lunge, der Pupille des Auges oder des Universums: alles zieht sich unerträglich zusammen und weitet sich aus. Unerträglich ist es die Luft in seinem aufgeblähten Brustkorb anzuhalten, genauso wie es unerträglich ist, in sich zusammengezogen, gar nicht mehr zu atmen. Es könnte sein, so meinte ich, dass das Glück sich verhielte wie der Blitz bei Heraklit: er kommt plötzlich vom Himmel geschossen, erhellt voller Schrecken das Firmament und lässt anschließend alles wieder im Dunkeln zurück. Weder die Helligkeit, noch die Dunkelheit, so mutmaßte ich, sei Glück, sondern es sitzt dazwischen, tritt nur in einem kurzen Moment auf und ist schnell wieder verschwunden. Es ist wie ein Parfum, das verfliegt, wie ein Geruch der Erinnerung, nach dem man strebt.
Ich setzte mich nieder auf die Bank, auf der ich mit ihr einmal saß, schaue hier oben von dem Hügel auf den sich bewegenden Fluss. Er fließt und fließt und mit jedem Moment ändern sich auch die Gesichter, die vor ihm stehen und ihn betrachten.
Wieso, so dachte ich, als ich hinunter zum Elbstrand ging und die kleinen Wellen, hervorgerufen durch die Fahrt eines Schiffes, sich am Ufer brechen sah – wieso hatte das Publikum Beifall geklatscht als ein achtzigjähriger Talk-Show-Gast verkündete, er sei seit sechzig Jahren mit der gleichen Frau verheiratet? Entnahmen die Beifallspender daraus eine Form des Glücks?
Welle für Welle betrachtete ich, Sehnsucht nach einem weiten, tosenden Meer kam in mir auf und ich fühlte, wie angenehm mich Unzufriedenheit durchströmte. Wie oft stand ich hier schon, gegenüber einem Wald voller Kräne und versuchte mit der Hilfe von Himmel, Sonne und Wasser irgendwelche Probleme zu lösen. Probleme, so las ich bei Bergson, seien Dinge an denen man sich entwickle – stelle man das Problem richtig, beinhalte es bereits die Lösung. Also ging ich weiter, man kann wahrscheinlich nichts anderes tun, als gehen und gehen, bis sich endlich etwas löst und in einem Aha-Effekt aufbricht. Ja, ich glaube fest an die Bewegung, früher nahm ich mir sogar einmal vor, solange die Elbe entlangzugehen, bis mir eine zündende Idee komme. Ich tat es dennoch nicht.
Sechzig Jahre verheiratet! Das werde ich nicht mehr schaffen. Nicht schaffen werde ich es, mit meiner Geliebten, wir beide aus dem Frühling kommend, gebrechlich und hinkend, im Winter unserer Gefühle, mit einer Plastikeinkaufstüte in der Hand, nebeneinander herzugehen. Nicht schaffen werde ich es, dass wir uns solange die Hände reichen, bis uns der Sabber aus dem Mund fließt, bis all unsere Leidenschaft sich einfriert in Alltäglichkeit und das Schwert der Emotionen stumpf geworden ist.
Liebe ist doch nur ewig, solange noch Wind in die Segel weht und jede Begegnung ein Rendezvous ergibt. Warum also klatschte das Publikum? Weil es allein das stoische Verharren miteinander als selig machende Form empfand? Unweigerlich musste ich an Sartre und Simone de Beauvoir denken, sie waren in ihrem Zusammensein getrennt – sie waren ein Paar, zweier sich eigenständig bewegender Menschen.
Ein kalter Wind blies mir in den Rücken, die Sonne hatte sich hinter einer Wolke versteckt, mein Haar geriet mir durcheinander, fiel mir von hinten ins Gesicht. Ich lief schneller, die Kälte wurde mir unangenehm und ich bog ab vom Strand hin zu einem windgeschützten Gehweg. Ich hörte mal, Erfrieren sei kein so schrecklicher Tod, man würde einfach einschlafen und nicht wieder aufwachen. Furchtbar. Müsste ich mir mal ein Ende bereiten, ich wollte lieber, so wie ein griechischer Philosoph, vom Kraterrand des Ätna in die Glut der Lava springen und dort verpuffen und als Wolke in den Himmel steigen. Cioran, der Todesphilosoph, meinte, man müsse sein Leben zu einem Zeitpunkt beenden, solange man noch die Handlungsfreiheit darüber hat. Er starb, welch eine Katastrophe, schließlich umnachtet in einem Altersheim. Es gibt keinen richten oder falschen Weg, jede Weisheit ist eine Illusion. Das Glück ist schwer zu erfassen, es ist der kleine Moment, der sich zwischen Blitz und Dunkelheit erzeugt.
Der Wind wurde weniger, ich strich meine Haare wieder nach hinten. Entlang ging ich den Weg zwischen den alten Kapitänshäusern, sah bunte Blumen in den Gärten, sah wie das Grün aus den Zweigen brach. Die dunkle Wolke am Himmel zog weiter und Sonnenstrahlen beschienen mein Gesicht. Wo sind all jene geblieben, mit denen ich einst hier entlang gegangen bin? Wo ist die behinderte Frau geblieben, die ich mit ihren Stöcken und schnellen Schritten damals öfters sah, wenn ich mit dem Fahrrad, jonglierend zwischen all den Menschen, hier entlangfuhr? Sie war immer alleine und soviel Freude stand in ihrem Gesicht. Wo sind all die Wörter geblieben, die ich hier in die Gegend warf? Selbst die Orte bewegen sich, sind nicht mehr die gleichen, die man mal verlassen hatte. Auch sie atmen irgendwie ein und aus, dehnen und ziehen sich zusammen, verändern sich bis zur Unkenntlichkeit.
Auf einem Gartenbeet sprossen bunte Tulpen und als ich um die Ecke bog, passierte es: Eine schwarz-weiß gemusterte Katze, streckte ihren Kopf zwischen Gitterstäben, ich beugte mich zu ihr hinunter. Ein Flohhalsband trug sie und sie quetschte sich elegant durch die Stäbe, kam zu mir hin. Ich streichelte sie, sie schnurrte, ein warmer Strom durchzog mein Gemüt. Und als die Katze in der Türöffnung eines Hauses verschwand, da wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte: Die Entscheidung brach aus mir heraus, als ich mit meinen Fingern das Katzenfell berührte.