Im Gespräch in einem Bremer Café erklärt mir eine Schülerin, dass sie den Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl gut findet. „Ich möchte jetzt zwar nicht die Rechte geben, aber...“ Was sie mir anschließend erklärt ist, dass sie es so meine, dass die CDU auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit durch das starke AfD-Ergebnis vielleicht zurückkehre. Sie, die sich für das Schulprojekt „Schule ohne Rassismus“ einsetzt, die links, neugierig und weltoffen ist, sucht nach einer Position: Sie fragt mich: „Warum weisen einen die Linken zurück, sobald man ein Quäntchen gesunden Menschenverstandes in der Politik haben will?“
Der Songtext von Alice Merton kommt mir in den Sinn:
I can´t get the numbers, and play the guessing name
It´s just the place that changes, the rest ist still the same
But I´ve got memories and travel like gypsies in the night […]
I´ve got no roots, but my home was never on the ground
Wir suchen unsere Verwurzelung, das Spiel hat sich geändert.
Bei dem Onlineportal ZEIT Campus gibt es die gut frequentierte Kategorie „jung und konservativ“. Nun mag sich der eine oder andere denken: Oh mein Gott! Jugend, das muss doch die Zeit sein, in der man die Welt verbessern will, wo man die Ungerechtigkeiten dieses kleinen Planeten anprangern muss.
Wieder dieser Gedanke, man muss doch gegen die Ungerechtigkeiten aufstehen. Sich engagieren, also „links sein“. Owei, das muss ja jetzt alles anders heißen. Wertkonservativ-couragiert!? Lucas Giesen führt - ebenfalls bei ZEIT Campus - in einen interessanten Artikel aus: Ich liebe die SPD, aber ich wähle die CDU. Klar: The world is gone mad.
Die gute Julia Grote schreibt, dass sie regelmäßig Kopfschütteln erntet. Die hippe, junge Frau kam ständig in Rechtfertigungszwang: Sie wurde gefragt: „Du bist doch cool, warum bist du in der JU?“ (Die Junge Union ist die Jugendorganisation der Christdemokraten.)
Doch wir haben eine Zeit des Umlernens. Der Aphorismus: „Wer 20 und kein Sozialist ist, hat kein Herz. - Wer 40 ist nicht konservativ ist, der hat keinen Verstand.“ scheint so nicht mehr zu gelten. Natürlich war er immer eine Vereinfachung, aber er ist, so muss man konstatieren, in den letzten zwei Jahren mehr erschüttert worden denn je. Weil eine ganze Generation erschüttert ist. Ein Werteangebot fehlt. Chiasamen-Kiwi-Sternfrucht-Joghurt und Veganismus mildern zwar ab, aber reichen dem Verstande nicht.
Bei einer der Veranstaltungen der Organisation „Frauen für Freiheit“ fiel bei einer Podiumsdiskussion zur Nachlese der Kölner Silvesternacht auf, dass es immer wieder einen Rechtfertigungszwang gibt. „Ich war als junge Studentin doch auch links!“, sagte die Bloggerin und Autorin Anabel Schunke. Trotzdem will sie die Rechtlosigkeit, die Rohheit, den Chauvinismus nicht im Sinne der „Nun finde es doch gut, Mädel!“-Nonchalance der Joschka-Fischer-Linken akzeptieren.
Und dann ist da noch sie: Die hippe, schlaue, urbane, sich als konservativ bezeichnende Autorin und Bloggerin Diana Kinnert. Ich nenne sie jetzt mal achtungsvoll Goldschmiedin der Worte. Sie findet gewählte Worte und reflektiert in einer erstaunlichen Weitsicht die Absurdität, dass links mit gesundem Menschenverstand nicht mehr links sein darf.
Sie schreibt in ihrem Buch: Ich war Jugenddetektivin. Ich war Nazi-Jägerin. (!) Diana Kinnert, 26, migrantisch, urban, seit einem knappen Jahrzehnt Mitglied der CDU, versteht sich laut Interview im Muxmäuschenwild-Magazin als bürgerlich-liberal und zugleich wertkonservativ. - Eine Sucherin.
Sie berichtet vom Rande des kulturellen Vulkans. Spielort Berlin; genauer gesagt: Kreuzberg - LesBiGay-Kneipe: „Als ich eine Transfrau für ihre Putinverteidigung kritisierte, beschimpft sie mich als Nazi. Und eine Grüne wünscht sich einen, „der mal lacht“. Links und rechts sind tot.“
Wir sind also Wandler, Suchende, Verunsicherte. Wir sind Umlerner.
Die Wahrheit ist doch, dass all diese Zweifler, Rechtfertiger, Umlerner immer noch engagiert, gutherzig, progressiv, offen und vorwärtsgewandt sind. Nun kommt aber ein riesiger Generationenkonflikt und ein Generationenmissverständnis hinzu. Diejenigen, die das Feld links der Mitte bestellt haben, sind 60, wenn nicht 70. Sie lassen sich nicht mehr reinreden. Die Generation Joschka Fischer macht zu. Sie, die die Ausländerfreundlichkeit erst nahezu ohne Ausländer, dann mit ausgesuchten Migranten (Portugiesen, Kroaten, liberalen Türken) zu ihrer Maxime erklärten (und damit nicht schlecht fuhren) lassen nun den Gesprächsfaden zur jungen Generation abreißen. Dieser Generationskonflikt ist bisher unbenannt. Aber er ist ist seiner Tragweite durchaus mit der Entfremdung der 68er-Studenten gegenüber ihren alles totschweigenden Eltern vergleichbar.
Wir sind suchend, undefiniert: Da ist sie wieder: Die Songstelle:
It´s just the place that changes, the rest is still the same ...
I´ve got no roots, but my home was never on the ground
Auf Fisch und Fleisch haben wir eine ähnliche Debatte. Ich schrieb einst in einem Blogbeitrag, dass ich im letzten Jahrzehnt auch bei einer „Demo gegen den Abschiebeknast Grünau war. Damals war das auch richtig.“ Sensible, kluge Menschen sind in sich gegangen. Ich wurde angemailt und von Freunden angesprochen. Margaretha schrieb mir: „Manchmal ist es schwierig, zu sehen, was richtig und falsch ist.“ Im Spannungsfeld „Bin ich links, rechts, liberal, libertär, den gesunden Menschenverstand folgend?“ gibt es aber nur Zerwürfnisse.
Ralf Stegner, der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende ist in seiner Position klar: Wer weniger als drei Millionen Menschen aufnehmen will, ist Faschist. Und diese fehlende Bereitschaft zur Diskussion ist es , die alles kaputt macht, welche eine Debatte verhindert.
Ich will mit einem Gedanken von Margaretha enden, in der Hoffnung, dass ich nicht den Vorwurf bekomme, alles aus dem Zusammenhang zu reißen. Ich sage: Eine Balance zwischen konservativ, jung, wild, progressiv, Vorsicht, Nächstenliebe, vorausschauendem Handeln und gesundem Menschenverstand ist wichtig.
Margaretha schreibt: „Diese Balance ist wichtig, ein Diskurs notwendig, besonders wenn ungestüme Jugend ihre Rebellion ins Leere verschießt und Mode und Lenkung nicht berücksichtigt. Gruppen der Gesellschaft sollten sich nicht diffamieren, „ewig gestrig“ ist für mich eher einer, der Adorno […] liest, als einer, der sich mit Herder [...] beschäftigt. Das ist eine Debatte wert.“
Ich sage, progressive, engagierte und couragierte Gruppen sollten sich nicht diffamieren.
DAS ist mir eine Debatte wert.