Charlie oder nicht Charlie - eine Frage?

Nachdem sich Hunderttausende mit den in einem Terroranschlag ermordeten Redaktionsmitgliedern von Charlie Hebdo mit dem Slogan „je suis Charlie“ solidarisiert haben, tauchen die ersten Gegenstimmen auf. „Je ne suis pas Charlie“ wird verkündet. Denn erstens hätten die sich das selbst zuzuschreiben, was verunglimpfen sie auch die Religion, vor allem die der anderen, warum halten sie nicht den Mund, wenn sie schon Morddrohungen erhalten haben, zweitens würde das Attentat von rechtsextremen Parteien für antimuslimische Hetze genutzt werden, zu denen möchte man nicht gehören, drittens ist das ganze schon wieder eine Sache, die Männer unter sich ausmachen, die einen provozieren durch ein paar Zeichnungen, die anderen (Stammhirnreaktion) ärgern sich und killen sie, viertens, stehen denn wirklich ein paar Zeichner für die gesamte Pressefreiheit? Sind denn Karikaturen so wichtig?

Es geht nicht darum, wie wichtig Karikaturen in unserem Leben sind, es geht auch nicht darum, wie der Anschlag eventuell in weiterer Folge für antimuslimische Hetze genützt werden wird (für Hetze kann schließlich mit bösem Willen alles herhalten). Es geht um das Recht auf Blasphemie, um das Recht, sich gegen autoritäre, totalitäre Ordnungssysteme (und für mich sind das alle monotheistischen Religionen, insofern kann man nicht oft genug gegen sie polemisieren) mit Witz und Mut und Ironie wehren zu können, ohne zu riskieren ermordet zu werden. Und natürlich haben Männer sich das wieder unter einander ausgemacht, aber auch deshalb weil sie immer noch überall die Definitionsmacht haben, in einer Zeitung genauso wie in einem Terrorkrieg. Wichtiger ist jedoch zu sehen, dass wir hier auf einem Weg zu einem Bilder- Denk- und Ideenverbot sind, wie wir es aus unserer jüngeren Geschichte nur zu gut kennen, nur werden diesmal nicht die Bücher verbrannt, sondern gleich deren Urheber abgeschlachtet.

Wenn wir das verharmlosen wie geht es dann weiter? Was ist mit feministischen Magazinen, die gegen Kopftuchträgerinnen polemisieren (z.b. Emma)? Auch abschlachten, Redaktion abfackeln und dann den Mund halten, weil eine Solidarisierung als antiislamisch ausgelegt werden kann? Was ist mit Richterinnen, die gegen Zwangsehe urteilen und daraufhin Morddrohungen erhalten? Keine Solidarität, weil es antiislamisch sein könnte? Na also wirklich! Wenn man das auf die katholische Kirche umlegt wäre Madonna in den 80ern schon mehrmals ermordet worden und manche hätten gesagt, hätte sie halt das Kreuz nicht beleidigt und sich nackt ausgezogen dabei..

Bezweifelt wird auch die Wertneutralität der Text-Bild Kombination, je suis Charlie. Denn sie impliziert als Subtext, wir werden alle bedroht. Aber genau das ist der Punkt. Ich persönlich will gar nicht wertneutral sein, ich habe Werte und irgendwann muss jede/r von uns einmal Stellung beziehen und nicht bloß abstrakt für Frauenrechte, Menschenrechte sein und in privaten Kreisen darüber reden.

Ja, wir werden alle bedroht. Oder warum solidarisieren sich Hunderttausende, gerade auch in Ländern wie Lateinamerika, wo sie Diktaturerfahrung haben mit Charlie Hebdo? Reicht ja schon, dass Staaten immer wieder unbequeme Meinungsäußerungen mit Ermordung (Olga Politkowskaja) oder Zwangslagern (pussy riot Girls) ahnden, ganz zu schweigen von den Verfolgungen der RegimegegnerInnen KünstlerInnen und JournalistInnen generell und weltweit.

Sollen wir jetzt auch noch von fanatisierten, testosterongesteuerten Rotzbuben, die von Hasspredigern aufgehetzt und von Al Kaida zu Mordkommandos ausgebildet wurden mundtot gemacht werden? Der Anschlag in Paris ist auf demselben Niveau wie die Kopfschüsse auf eine 12 Jährige in Pakistan, die sich dafür einsetzt, dass Mädchen in die Schule gehen dürfen. Man kann aber nicht einerseits Malala Yousafzai den Nobelpreis überreichen und dann in die Knie gehen, wenn‘s bei uns passiert. Der Anschlag in Paris ist ein 9/11 für die Möglichkeit unbequem zu denken oder schlicht, überhaupt zu denken, er ist mehr als 9/11, denn 9/11 sollte eine militärische Supermacht treffen, aber der 7.1. trifft jede einzelne von uns ins Herz. Je suis Charlie, ja das ist die beste Text-Bild Bedeutungsproduktion, die einem dazu einfallen konnte.

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Kristallfrau

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Silvia Jelincic

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