Frau H. ist eine 77-jährige Geigerin. Die Ostheoporose hat ihre Wirbelsäule stark deformiert, sie spaziert mit einem fahrbaren Gehbock. Als erstes fallen mir ihre Schuhe auf. Ein paar graubeige, orthopedische Schuhen, auf dem ersten Blick Nummer 43, aber die Füße, die darin stecken, sicher nicht größer als 37.
Ich sitze im Hinterhof eines Altersheims, neben einem kleinen Fischteich. Die Mittagssonne brennt inmein Gesicht, während ich der Assistentin mir gegenüber erzähle: ich finde fast keinen Sinn in meinen Tagen. Sie zündet eine Zigarette an, ohne zu ahnen, dass sie die erste Person ist, der ich zugebe, dass...
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...dass „sinnvolle Tätigkeit“ in meinem Wörterbuch ein Synonym für Wörter wie lieben, schaffen oder schenken ist. Dass ich diese in meinem Alltag vermisse. Dass mich abends eine beurteilende Stimme fragt, wieviel Sinn und Wert ich in meinen heutigen, nie wiederkehrenden Tag eingepackt habe. Und dass die Erkenntnis, dass eigentlich nicht viel, mich immer mehr nervt.
In diesem Moment spaziert neben uns eine alte Frau mit ihrem Gehbock und auffallend speziellen Schuhen vorbei. Ihr Hüftknochen an der rechten Seite steht so unnatürlich raus, dass es auch unter der großen, langen Bluse verborgen erschreckend wirkt. Wir grüßen uns.
Die Assistentin fragt mich, was ich so arbeite. Marketing ist ein unglaublich interessantes Gebiet, ja. Aber ich glaube, es gibt noch hunderte von interessanten Gebieten, die darauf warten, dass ich sie entdecke, und wo sich meine Stärken so richtig zeigen können. Ansonsten habe ich mit diesem Monat aufgehört. Ich möchte mich umprofilieren. Das große Bild ist noch nicht ganz klar. Aber mein Kompass zeigt schon die Richtung, in die ich gehen will.
Sie drückt ihre Zigarette aus und sagt: das ist aber ein schöner Zufall! Im Heim wohnt eine geistig ganz fitte alte Dame. Sie hat sich gerade heute darüber beschwert, sie kann hier mit niemandem reden. Die meisten Bewohner haben nämlich starke Demenz. Hätte ich vielleicht Lust, als Freiwilliger diese Dame hin und wieder zu besuchen und mit ihr ein bisschen zu plaudern?
Ich bin ja deswegen hier. Wir gehen nach oben auf den zweiten Stock und suchen das Zimmer von Frau H. Als ich ins Zimmer eintrete,sehe ich, dass sie dieselbe Frau ist, die ich unten neben dem Fischteich begrüßt habe. Wir schütteln die Hände. Sie lädt mich ein, mich hinzusetzen, und sagt mir, ihre Hände waren genau so kalt wie meine, als sie noch jung war.
Ich nehme Platz und fühle, dass die Herausforderung, der ich mich dieses Mal stelle, bisher einzigartig in meinem Leben ist. Ich bin ein bisschen nervös. Aber, wenn alles gut läuft, habe ich gute Chancen, heute Abend in diesem nie wiederkehrenden Tag mehrfach Sinn zu finden.