Jede Generation muss sich gegen destruktive Strömungen wie Krieg und Fremdenhass zur Wehr setzten. Das war von 500 Jahren so, wie Shakespeare hier meisterhaft beschreibt und wird auch in Zukunft so sein.

Ein sehr lesenswerter Artikel dazu in der ’Zeit‘:

„Es ist nicht so, dass England keine Erfahrungen mit Flüchtlingen hätte. Im frühen 16. Jahrhundert zum Beispiel haben sich Abertausende Hugenotten aus Frankreich und Flandern in London niedergelassen, weil sie in ihren katholischen Herkunftsländern nicht mehr sicher waren. Und auch damals gab es Einheimische, die mit der Ankunft der Neuen nicht einverstanden waren.

Schnell kursierten fremdenfeindliche Flugblätter. Die Franzosen, hieß es, würden englische Frauen entführen und die englische Kultur unterwandern. Und als ein gewisser Dr. Beal am Ostersonntag 1517 bei St. Paul's Cross eine agitatorische Rede hielt, eskalierte die Lage: Es kam zu Angriffen auf offener Straße, Franzosen wurden reihenweise gelyncht und es verbreitete sich das Gerücht, ein Aufstand sei die sichere Konsequenz: Am ersten Mai werde sich das Volk erheben und die Fremden vertreiben.

Der König verstand die fremdenfeindlichen Ausschreitungen als Angriff auf seine Autorität und ließ umgehend 5.000 Soldaten vor London aufmarschieren. Die Aufständischen hielten nicht lange durch: Die Rädelsführer wurden verhaftet, zum Tode verurteilt und schließlich gehängt, ausgeweidet und gevierteilt. In dieser Reihenfolge. Bis heute ist die Geschichte des Evil May Day in England als warnendes Beispiel gegen die Untergrabung staatlicher Autorität vielen geläufig.

Gewandt und bildreich

Es existiert ein altes Theaterstück über diesen Aufstand, das Literaturwissenschaftler seit Jahrhunderten neugierig umschleichen: Das Stück ist etwa sechzig Jahre nach dem Evil May Day entstanden und wurde von mehreren Autoren verfasst. Jeder Autor hat einen Abschnitt beigesteuert und bis auf einen einzigen konnten auch sämtliche Autoren identifiziert werden. Allerdings ist der Abschnitt, dessen Autor lange unbekannt war, ausgerechnet der mit Abstand beste, weshalb der Verdacht im Raum stand, er stamme von William Shakespeare.

In dem Abschnitt wendet sich Thomas Morus, der damals Bürgermeister von London war, in einer Rede an die Aufrührer und bittet sie, von ihrem Aufstand abzusehen: "Seht, ihr brecht selbst, wonach ihr schreit: nämlich den Frieden." Die Argumentation ist gewandt, und bildreich und eigentlich erkennt man Shakespeares Ton sofort. Allerdings konnte es sich auch um eine gelungene Imitation handeln.

Keinen Schritt weiter

Den Beweis lieferten moderne Analyseverfahren erst vor Kurzem: Der Abschnitt namens Handschrift D stammt tatsächlich von William Shakespeare. Es ist neben sechs überlieferten Unterschriften das einzige erhaltene Manuskript, die einzige Probe seiner Handschrift. Und es ist eine Rede für mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen.

Man kann die Szene nicht lesen, ohne die Debatten wiederzuerkennen, mit denen sich Europa gerade wieder beschäftigt, als sei man in 500 Jahren tatsächlich keinen einzigen Schritt weitergekommen. Was wäre eigentlich genau gewonnen, wenn die Fremden verschwänden, fragt Shakespeares Morus:

"Gesetzt, sie gehn; gesetzt, dass euer Lärm

Ganz Englands Recht und Würde niederschrie.

Dann stellt euch vor, ihr seht die Fremden, elend,

Mit Lumpenbündeln, Kinder auf dem Rücken,

Wie sie zu Küsten und Häfen trotten,

Und ihr sitzt da, als König eurer Wünsche,

Die Staatsmacht starr verstummt vor eurer Wut,

Und ihr gespreizt im Protzornat des Dünkels:

Was habt ihr dann?

Ich sag's euch: ihr habt nur

Gelehrt, wie Frechheit und Gewalt obsiegt."

Die Pogrome brachen trotzdem aus

Morus bittet seine Zuhörer, sich vorzustellen, ihr Aufstand ginge schief und sie müssten selbst vor dem Zorn des Königs fliehen. Was dann? Würden sie nicht auch hoffen, in anderen Ländern Obdach zu finden?

"Wenn ihr dort auf ein Volk träft, so barbarisch,

Dass es wild ausbricht in Gewalt und Hass,

Euch keinen Platz gönnt auf der weiten Welt,

(...)

Wenn man mit euch so umging? So geht's den Fremden,

Und so berghoch ragt eure Inhumanität."

In der Realität konnte die Rede von Thomas Morus wenig ausrichten. Die Pogrome brachen trotzdem aus, das Plädoyer des Bürgermeisters verhallte ungehört. Bei Shakespeare hingegen lassen sich die Aufrührer überzeugen. Sie rufen: "Er hat recht! Handeln wir, wie wir an uns gehandelt sehn wollen!", geben ihre Waffen ab und ergeben sich dem König. Ethik und Rhetorik triumphieren über Neid und Gewalt.

Stets aufs Neue

In den folgenden Jahrhunderten sind demokratische Verfassungen entstanden, Menschenrechte wurden formuliert, Grundrechtskataloge erstellt. Das Recht ist heute häufiger auf der Seite der Schutzbedürftigen als damals. Das ist viel. Aber einen entfesselten Mob, der wahllos Fremde angreift und Häuser in Brand steckt, halten Dokumente auch nicht auf.

So war es vor 500 Jahren. Und derzeit gibt es keinen Anlass zu glauben, dass wir heute weiter wären. Deshalb lautet die eigentliche Erkenntnis aus Shakespeares Morus-Rede, dass gesellschaftlicher Fortschritt stets aufs Neue erkämpft werden muss. Die Europäer sind dazu verdammt, in jeder Generation immer wieder dieselben Debatten auszufechten.“

William Shakespeare: Die Fremden, dtv 2016, München, 6 Euro

Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-09/william-shakespeare-fluechtlinge-manuskript-toleranz/komplettansicht

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

2 Kommentare

Mehr von Klassensprecher