Die erste These, die sie uns in der Academy beigebracht haben, ist die der Präsenz.

Sei klar. Sei wachsam. Dazu haben sie uns immer wieder angehalten.

Jedes Geräusch, jeder Geruch, jeder Schatten kann dich deinem Zielobjekt näher bringen.

Obgleich Jack oder einer seiner Männer jederzeit auftauchen könnte, fällt es mir schwer, mich an eben diese These zu halten. Zu vieles in meinem Kopf, das mich ablenkt. Ich mache mir Sorgen um mich. Als ich den Auftrag vor einigen Wochen annahm, war noch alles in bester Ordnung. Doch schleichend fing es an. Nun ist es da, und ich kann es nicht ignorieren. Ich muss mir eingestehen: Mit mir stimmt etwas nicht.

Ich lausche in die Ferne: Stille. Noch keine Spur von Jack.

Die Flashbacks machen mir am meisten zu schaffen. Ich weiß nicht, ob ich sie überhaupt so nennen kann. Kurz aufflackernde Segmente. Erinnerungsfetzen. Aber woran erinnere ich mich? Ich bin ein systematisch-logisch denkender Mensch, glaube nicht an Reinkarnation und so einen Scheiß. Trotzdem sehe ich Bilder aus einem früheren Leben. Immer wieder die gleiche Szene vor meinem geistigen Auge: Ich stehe mit dieser mir so vertrauten Frau auf einer Brücke. Der Fluss unter uns, Regen auf uns, Tränen in ihrem Gesicht. Sie sagt sie könne so nicht weitermachen, sagt, ich sei nicht mehr ich selbst. Und dann geht sie.

Der Gang, den ich entlanglaufe, scheint endlos zu sein. Dreck an meinen Füßen, Gestank nach Kanalisation. Wüsste ich nicht mit Sicherheit, dass Jack sich hier verschanzt, hätte ich Besseres zu tun, als mich in diesen Gefilden aufzuhalten. Manchmal verfluche ich meinen Job.

Stopp. Da ist es wieder: dieses Geräusch. Dieser schrille Ton, der mich seit Stunden immer wieder quält. Ich weiß, dass er nicht real ist. Dass er nur aus meinem Kopf stammt. Und trotzdem kann ich ihn nicht abstellen. Was zum Teufel stimmt nicht mit mir?

Ich laufe weiter durch die Katakomben, versuche, mich von dem quälenden Geräusch abzulenken. Ich denke an früher. An den Beginn meiner Karriere. An damals, als ich mit dem Detektieren anfing. Der erste Auftrag, dieser Juwelierraub bei Withaker‘s. Und dann der große Coup nach nur wenigen Wochen im Dienst: Als ich die gesamte Housiani-Gang enttarnte. Die Zeitungen feierten mich. Ich war ein Held.

Diese Flashbacks, dieses Geräusch. Beides lässt sich wohl noch irgendwie erklären. Berufliche Belastung, Schlafmangel und so weiter. Doch das mit dem Hunger bleibt mir ein Rätsel.

Ich esse viel, ernähre mich bewusst ballaststoffreich, doch das Hungergefühl besteht weiterhin. Von keiner Krankheit, die solche Symptome aufweist, habe ich je gehört.

Ich fühle, wie mich langsam die Kraft verlässt.

Endlich: Ich erblicke die grüne Tür, von der mir mein Informant erzählt hat. Dahinter befindet sich der Heizraum, Jacks Versteck. Das schrille Geräusch hat aufgehört. Ich atme leise und kontrolliert.

Es ist soweit. Ich ziehe meine Waffe, gehe langsam auf die Tür zu, stelle mich neben sie, damit man meinen Schatten nicht sieht. Mein Magen knurrt.

Ich lege meine Hand auf die Klinke, und obwohl ich das Gefühl habe, zu Zittern, ist sie ganz ruhig. Ich öffne die Tür.

Der Raum ist riesengroß und dunkel. Eine schmale Brücke führt durch ein Labyrinth aus monströsen Metallrohren. Dampf dringt aus unzähligen Heizkesseln. Nur wenige Meter weit lässt mich das karge, in Dampf gehüllte Licht den Verlauf der Brücke erkennen, Jack bieten sich hier zahlreiche Möglichkeiten, mir aufzulauern.

Sei klar. Sei wachsam.

Ich stütze mich mit einer Hand auf das niedrige Geländer der Brücke und schreite langsam voran. Der laute Widerhall meiner Schritte verrät, dass es unter mir in die Tiefe gehen muss. Ich passiere die ersten Rohre, die neben und über mir verlaufen, meine Waffe immer geradeaus in die Dunkelheit gerichtet. Da Jack nicht freiwillig aus seinem Versteck kommen wird, muss ich alles auf eine Karte setzen. Ich bleibe stehen, schreie: „Jack! Ich weiß, dass Sie hier sind. Stellen sie sich. Es ist vorb...“

Dumpf spüre ich einen Schlag auf meinen Hinterkopf.

Dumpf spüre ich einen Schlag auf meinen Hinterkopf. Mein Schädel dröhnt. Ich sinke zu Boden.

Spüre keinen Schmerz. Verschwommen sehe ich Jacks Gestalt über mir. Dann wird alles schwarz.

Ich denke, ich bin tot, doch höre mich selbst noch atmen. Ich bin bei Bewusstsein, doch kann

meine Augen nicht öffnen. Dunkelheit.

Doch da hinten wird es hell. Ich erkenne einen weiß blinkenden Punkt, er kommt immer näher. Ist

das das berühmte Licht?

Nein. Moment. Das Licht manifestiert sich zu einem Schriftzug.

Da steht etwas. Ja, jetzt kann ich es entziffern:

„You didn‘t catch Jack.

Mission failed.

Game over.“

Langsam und eiskalt kommt sie zurück, meine Erinnerung. Langsam werde ich klar. Langsam wach. Ich greife mir an den Kopf und begreife. Ich fühle die Kabel, die in den Sensoren und

Aktoren an meinem Hinterkopf enden. Ich erspüre das heiß gewordene Plastik der Virtual Reality Brille, und nehme sie langsam ab. Als meine Augen die Realität erblicken, erscheint sie mir so dunkel wie Jacks Versteck. Ich sehe die Uhr an meiner Arbeitszimmer-Wand. Sie zeigt auf die Fünf. Draußen regnet es.

Wieder erklingt dieses schrille Geräusch. Dieses Mal erkenne ich, woher es kommt. Es ist der Alarmton meines Handys, den ich eingestellt habe, falls ich jemals über acht Stunden spielen sollte.

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Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 28.02.2017 08:47:42

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