Die Corona-Krise ist eine weltweite Verschwörung einer Elite, die die Gesellschaft weiterhin versklaven will. So oder so ähnlich würden einzelne Verschwörungstheoretiker die aktuellen Geschehnisse deuten – nein nicht nur deuten, sondern voller Überzeugung dahinterstehen. Krisen und die daraus folgenden Notmaßnahmen, die geschichtlich bereits oft aufgetreten sind, bieten Verschwörungstheoretikern und Populisten eine gute Gelegenheit, um ihre – auch wenn oft weniger haltbaren – Thesen medial zu verbreiten.
Doch was genau sind Verschwörungstheorien? Grundsätzlich wird als Verschwörung eine Art Komplott einer kleinen, geheimen Gruppe bezeichnet, die sich gegen Einzelpersonen oder Gruppen richtet. Etwa die Ermordung Julius Cäsars durch eine Gruppe von Politikern. In der Wissenschaft wird deswegen bewusst zwischen Verschwörungsthesen und Verschwörungsideologien unterschieden. Während Verschwörungsthesen wissenschaftlich belegt oder verworfen werden können, sind Verschwörungsideologien (umgangssprachlich Verschwörungstheorien) immun gegen die Wissenschaft und jede Art von Beleg. Als solche werden Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Sie hegen keine gesunde Skepsis, sondern vermuten hinter jedem Ereignis eine klare Verschwörung – ungeachtet von Belegen und Wissensstand.
Die Suche nach einfachen Erklärungen in einer komplexen Welt
Denn in einer Welt, wo viele Mechanismen ineinander verzahnen und politische Ereignisse oft von vielen Faktoren abhängen, suchen viele nach einfachen, monokausalen Erklärungen. Vor allem in Zeiten einer Informationsflut, wo es schwierig ist seriöse Quellen von Spekulationen zu unterscheiden. Anstatt rationale und wissenschaftliche Belege einbindend sich eine Meinung zu bilden, tendieren Verschwörungstheoretiker oft dazu, die Ereignisse auf eine Verschwörung herunterzubrechen. Während sich einzelne Pseudoexperten dadurch einen Namen machen können, bietet es vielen Anhängern von Verschwörungstheorien die Möglichkeit die Welt einfacher zu erklären und sich nicht „belanglosen und sowieso manipulierten“ Quellen herumzuschlagen. Es bietet aber noch mehr – nämlich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, die die Welt durchschaut hat, während der „Mainstream“ blind und unkritisch durch die Welt wandert. Eine Welt mit wenig Ahnung für viel Meinung.
Es bietet aber noch mehr – nämlich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, die die Welt durchschaut hat…
So sehen es zumindest Verschwörungstheoretiker. Nichts auf der Welt ist dem Zufall überlassen – alles ist orchestriert, ob eine Wahl, ein Wirtschaftscrash oder ein militärischer Einmarsch. Sie homogenisieren ähnlich wie Populisten die Gesellschaft und verwenden oft schwammige Begrifflichkeiten wie „Elite“ und „das Volk“, das aus ihrer Sicht versklavt wird – und das, obwohl es „kein einheitliches Volk“ gibt, sondern Einzelinteressen und es nicht „die Elite“ gibt, sondern auch innerhalb von Regierungen unterschiedliche Meinungen vorherrschen, die sich mal durchsetzen und mal nicht. Verschwörungstheoretiker machen sich das Leben zu einfach, wenn sie etwa militärische Konflikte, die durch unterschiedliche Faktoren entstehen, einer Elite zuschreiben. Wenn etwa staatlichen Machtinteressen von unterschiedlichen Großmächten, politische Gruppen, demographische Faktoren, die Regierungsform beiseitegeschoben werden und man stattdessen wahlweise etwa die Bilderbergerkonferenz oder die Illuminaten dahinter vermutet.
Überall werden Zeichen gedeutet, wo es keine gibt. Wie so eine Argumentationskette funktioniert und wie leicht solche Theorien zu entkräften sind, sieht man in der aktuellen Corona-Krise. Dass Viren seitdem es die Menschheit gibt, immer wieder sich verändern und es zu Pandemien kommt, stört einige nicht, die Pandemie als geplant zu deuten. Filme wie etwa „Contagion“ werden als klares Indiz gesehen, dass alles bereits geplant war – ungeachtet davon, dass solch einen Film jeder typischen Pandemie zuschreiben könnte, die es in den letzten Jahrzehnten gab. Oder etwa eine routinierte Risikoanalyse der deutschen Experten, die 2012 bereits die Zustände, die es in der Corona-Pandemie gab, beschrieb. Für manche eine klare Verschwörung, ohne dabei zu bedenken, dass solche Risikoanalysen regelmäßig stattfinden und Pandemien nun mal oft ähnlich verlaufen und verlaufen sind. Selbstverständlichkeiten, wie etwa wirtschaftliche Krisen – auch und vor allem in Zeiten von Krisen – werden als etwas Besonderes gedeutet, dass die eigene Ideologie bestätigen soll.
Wenn das Bauchgefühl und die selektive Wahrnehmung die Debatte dominieren
Konfrontiert man Verschwörungstheoretiker mit handfesten Fakten, Expertenmeinung oder wissenschaftlichen Belegen, wertet man diese Erkenntnisse ab. Die Erkenntnisse tausender Fachexperten in einem Gebiet sind aus der Sicht von Anhängern von Verschwörungstheorien lediglich „eine andere Meinung“ – ihr Bauchgefühl und ihre Spekulationen hingegen mindestens genauso viel Wert wie ein Fakt.
Verschwörungstheorien sind Baukästen, Selbstbedienungsläden, wo man sich das zusammenbauen kann, wonach einem gerade ist – sofern der Anschein der Plausibilität bewahrt wird. Während Verschwörungstheoretiker allen anderen vorwerfen, nicht kritisch genug zu sein und alles „denen da oben“ zu glauben, sind sie oft selbst diejenigen, die oft ohne die Quellen zu prüfen, alles glauben, was ihnen „die alternativen Medien“ bieten. Sofern es sich gegen das System richtet, braucht man es nicht zu hinterfragen. Dadurch demaskieren sich viele, in dem sie allen Medien einerseits Meinungsmache vorwerfen und mit Skepsis begegnen, gleichzeitig aber jede Information „alternativer Medien“ unkritisch übernehmen. Das sind oft jene Medien, die reißerische Titel und Spekulationen verbreiten, ohne Belege zu liefern. Manche von ihnen verzerren bewusst die Wirklichkeit, andere selektieren jene Informationen raus, die ihrem Weltbild entsprechen, während unliebsame Information einfach ausgeblendet werden.
…ihr Bauchgefühl und ihre Spekulationen hingegen mindestens genauso viel Wert wie ein Fakt.
Es ist den Menschen eigen, Informationen, die dem eigenen Weltbild entsprechen, eher Glauben zu schenken, als jenen Informationen, die das eigene Weltbild in Frage stellen. Während jeder mit einer gesunden Portion Skepsis im Zweifelsfall die Meinung von Experten, seriösen Quellen heranzieht, sind Verschwörungstheoretiker nahezu immun gegen „andere Darstellungen“. Sogar in Themenfeldern, wo die Zustimmung der Wissenschaft sehr hoch ist – etwa beim Klimawandel – werden die 97% der wissenschaftlichen Studien einfach als „eine andere Meinung“ abgewertet. Gleichzeitig berufen sie sich auf die 3% der Wissenschaftler im jeweiligen Themenfeld, die ihre Meinung bestätigen. Das zeigt vor allem drei Aspekte: Verschwörungstheoretiker messen mit zweierlei Maß, sie degradieren jede Art von Wissenschaftlichkeit und stellen ihr – oft mangelndes – Wissen über die Meinung von Fachexperten, die jahrzehntelang sich mit einem Thema beschäftigen.
Wenn moralische Flexibilität wichtig wird
Ja, das sind jene Personen, die jede Hochrechnung, die nicht ihrem Weltbild entspricht, als manipuliert bezeichnen, obwohl sie selbst nicht wissen wie eine Hochrechnung zustande kommt. Das sind jene Personen, die Wahlen gerne als manipuliert bezeichnen, obwohl sie selbst noch nie bei einer Wahl – sei es nur als Wahlbeobachter – mitgewirkt haben. Das sind jene, die vor der Pandemie nachweislich falsche Videos über überfüllte Krankenhäuser verbreiten und während der Pandemie behaupten, die Krankenhäuser seien doch leer und das Virus harmlos. Und das sind auch jene Personen, die allen Medien vorwerfen gleich zu sein, ohne dabei je etwa den Standard mit der Presse verglichen zu haben. Moralische Flexibilität oder gelebte Persönlichkeitsentzweiung sozusagen.
Die Arroganz und die Selbstgefälligkeit, alles durchschaut zu haben, ist maßlos. Dabei steht jeder in der Verantwortung – vor allem in Zeiten der Krise – sorgfältig mit Informationen umzugehen. Eine gesunde Grundskepsis ist wichtig – genauso wichtig wie nüchterne Debatten und in der Sache faire Streitereien. Debatten, die leidenschaftlich aber nicht emotionsgeleitet sein sind. Vor allem eine Streitkultur, in der man nicht emotionalisiert und die anderen abwertet. Eine Streitkultur, die nicht vom Bauchgefühl und Spekulationen, sondern Fakten geleitet ist.