Ein Märchen
Es war einmal ein kleines Völkchen. Es lebte in einem sehr kleinen, überschaubaren Universum, welches immer wieder von verschiedenen Menschen besucht wurde. Das wollte das Völkchen aber nicht. Sie wollten unter sich sein, um ihrer allumfassenden Religion zu huldigen.
Die Religion verdrehte den Mitgliedern schon früh den Kopf. Der Grund dafür war die Haltung, nach der das nette kleine Völkchen leben musste. In ihrer Religion mussten nämlich nicht nur alle Gefühlsregungen, sondern sogar alle persönlichen Eigenschaften in zwei Kategorien eingeteilt werden. Akzeptanz fand dabei nur eine Kategorie.
Die beiden Kategorien wurden nämlich nicht – wie beim Yin und Yang des chinesischen Volkes – als gleichwertig betrachtet. Nein! Viele überaus menschliche Gefühlsregungen wurden als schlecht, ja sogar als böse angesehen.
So hatte es sich das Völkchen selbst schwierig gemacht, ein Volk zu werden. Denn alle kleinen Bewohner des kleinen überschaubaren Universums, die sich insgeheim mit einem Persönlichkeitsmerkmal oder einer Gefühlsregung in der missliebigen Kategorie wiederfanden, mussten immer mit der unterschwelligen Angst leben, von der Gruppe attackiert und sogar verstoßen zu werden. Viele versuchten zwar alles in ihrer Macht stehende, um gewisse Gefühle nicht mehr zu, und gewisse Persönlichkeitsmerkmale verkümmern zu lassen, aber es gelang ihnen nicht.
In der Kategorie der ungeliebten Persönlichkeitsmerkmale konnte man beispielsweise Vorschriften zum richtigen und falschen Musikgeschmack finden. Aber auch Regeln zur richtigen und falschen Kleidung enthielt das Kategorienbüchlein. Mitgefühl gehörte zu den ungeliebten Gefühlsregungen. Zwar war sie innerhalb des Völkchens ab und an erlaubt, aber wehe ein Mitglied hegte Mitgefühl für einen Menschen außerhalb des Völkchens! Dann wurde dieses Mitglied in die böse Kategorie gesteckt, und galt fortan als verdorben. Es drohte sogar die Verbannung.
Eine weitere böse Gefühlsregung war der falsche Gerechtigkeitssinn. Denn Gerechtigkeit durfte immer nur für das eigene Völkchen gelten. Und das natürlich auch dann, wenn das gesamte Völkchen sich seiner Schuld bewusst war. Das führte zu ganz eigenartigen Geschehnissen innerhalb des Völkchens. Denn auch, wenn im Kategoriebüchlein stand, dass immer das eigene Völkchen Recht hatte, war da in vielen von ihnen dieses vage Gefühl, dass das so nicht ganz richtig ist. Ihr Schuldgefühl jedoch wurde ebenfalls unterdrückt. Schuld war nämlich ebenfalls der bösen Kategorie zugeordnet.
All das führte unweigerlich zu einer Inkohärenz innerhalb des Völkchens. Einzelne Mitglieder wurden krank, weil sie sich nicht mehr ihrer Natur gemäß ausdrücken konnten. Denn es liegt nicht in der Natur des Lebendigen, sich selbst zu verneinen. Nur, wer alles Lebendige mit all seinen Eigenschaften bejaht, kann ein Leben führen, das dem Einzelnen gerecht wird. Anfangs konnten sie sich noch über Wasser halten, indem sie sich untereinander ihre Wahrheit vorbeteten. Aber irgendwann, als sich zumehmend eine Reihe von Geschehnissen zutrugen, die ihr ureigenstes Gefühl anders beantworten würde als das Kategoriebüchlein, gelang auch das nicht mehr.
Das Völkchen fiel auseinander. Und auch, wenn das im ersten Moment traurig klingen mag, war es in Wahrheit ihre Erlösung! Als die einzelnen Mitglieder nämlich damit begannen, ihre ureigenste Persönlichkeit anzunehmen und auszudrücken, weil sie sich nicht mehr an den strengen Kodex des Kategoriebüchleins halten mussten, blühte jedes einzelne Mitglied auf! So kam es, dass sich einige Mitglieder des Völkchens nach einigen Jahren wieder trafen. Alle hatten sie rote Bäckchen und strahlende Augen. Aus ihren Augen strahlte ein Lächeln. Ihr ganzes Gesicht schien sogar zu lächeln!
Als sie sich das erste Mal ohne Kategorien begegneten, fanden sie es wunderbar, dass sie als das erkannt wurden, was sie wirklich waren! Nämlich eigenständige, gute, liebevolle und liebenswerte Wesen. Mit all ihren Ecken, Kanten, Macken, Vorlieben und Charakterzügen!
Das Völkchen tat sich wieder zusammen. Und wieder gab es ein Büchlein, weil Normen und Regeln in einer Gemeinschaft nun mal sein müssen. Aber dieses Mal wurde nicht in zwei Kategorien eingeteilt. Im Gegenteil! Dieses Mal wurde vereint! Der erste Satz des Büchleins lautete: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Dieser eine Satz änderte alles. Und zwar deshalb, weil er von jedem Einzelnen aus dem Völkchen akzeptiert werden konnte. Und als sie anfingen, sich nach diesem Sätzchen zu begegnen, zu handeln und zu leben, wurde aus dem ehemals kleinen Völkchen ein großes Volk, das viel Gutes und Zauberhaftes hervorbrachte.