Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass sich Geschichte wiederholt. Wie vor 100 Jahren das Kaiserreich den Osmanen, so hält die derzeitige deutsche Bundesregierung der Türkei die Treue. Berichte über blutige Angriffe auf Kurden oder christliche Minderheiten werden totgeschwiegen oder kleingeredet. Das erinnert an die Zensur in der Medienlandschaft zu Zeiten Kaiser Wilhelms des Zweiten, als das Osmanische Reich den Völkermord an den Armeniern, Aramäern / Assyrer / Chaldäern, Pontosgriechen und jesidischen Kurden beging.
Turkmenische Islamisten haben am 20. Januar 2016, wie schon im März vor zwei Jahren, von der Weltöffentlichkeit nahezu unbemerkt die armenisch besiedelte Kleinstadt Kessab in Nordsyrien unter Beschuss genommen.
Es handelt sich um diesselben Milizen, die im November 2015 den Kopiloten des von Türkei abgeschossenen russischen Militärjets brutal hinrichteten.
Doch wer sind diese Milizen, über die in den deutschen Leitmedien geschwiegen wird eigentlich?
Ganz anders als damals die irakischen Turkmenen angesichts der Angriffe des IS vom Sommer 2014, stehen die syrischen Turkmenen aktuell in besonderem Focus der türkischen Medien. Die regierungsnahen Medien verbreiten Meldungen über gezielte Massaker und Vertreibungen durch russische und iranische Angriffe auf die turkmenische Minderheit Syriens. Auch in Deutschland fanden im November 2015 Demonstrationen von, der türkischen Regierung nahe stehenden, Lobbyverbänden statt.
Die turkmenische Minderheit in Syrien
Diese Angaben erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht haltbar.
In Syrien leben ca. eine halbe Million Angehörige der turkmenischen Minderheit. Im Gegensatz zu den Turkmenen im Irak und Iran sind sie sunnitische Muslime, keine Schiiten. Sie leben über über das ganze Land verteilt. Der Großteil konzentriert sich in drei Gebieten. Zum einen leben viele Turkmenen im syrisch-israelischen Grenzgebiet um die Golanhöhen. Außerdem bilden sie zahlenmäßig starke Bevölkerungsanteile in und um die Ballungszentren der Hauptstadt Damaskus und der nordwestsyrischen Küstenstadt Latakia.
Der überwiegende Großteil lebt also in Gebieten, die unter Kontrolle des Assad-Regimes stehen, und daher zu keiner Zeit Ziel von Angriffen waren.
Dementsprechend widersprüchlich fallen Aussagen turkmenischer Vertreter aus. Während der Milizenführer Osman Salih die türkische Version bestätigt, widerspricht Anwalt Ali Öztürkmen entschieden.
Wer sind diese Milizen?
Die Nachrichtenagentur Cihan Haber veröffentlichte am 22. November 2015 dieses aufschlussreiches Video zu Erdoğans Günstlingen in Syrien.
Das Video zeigt eine der sogenannten Turkmenen-Milizen, die sich vor westlichen Kameras lieber mit FSA-Flaggen als "gemäßigte Kräfte der syrischen Opposition" inszenieren. So soll der Verdacht von sich gewiesen werden, ebenso wie ihre Verbündete Al Nusra Front eine Dschihadisten-Miliz zu sein. Tatsächlich handelt es sich um die “Abdülhamid Brigaden” rund um ihren Kommandanten Ömer Abdullah. Abdülhamid II war der letzte osmanische Sultan vor der Machtübernahme der Jungtürken und u.a. für die Hamidischen Massaker von 1894-1896 verantwortlich. Als Herrscher über ein wirtschaftlich angeschlagenes Imperium, verfolgte er mit Härte und Brutalität die Ideologie des sogenannten Panislamismus.
Inwieweit es sich bei der nach ihm benannten Truppe tatsächlich um eine “Turkmenenmiliz” handelt, ist unklar. Während bei den irakischen und iranischen Turkmenen beispielsweise mindestens ein Akzent oder gar Dialekt erkennbar wäre, der phonetisch stärker labial geprägt ist als das Hochtürkische und oft andere Konsonanten verwendet, sind syrische Turkmenen weder am Namen, noch an der Sprache, noch an der Konfession von Türken aus der Türkei zu unterscheiden. Daher lässt sich nicht feststellen, wie viele echte Turkmenen sich in ihren Reihen befinden und wie hoch der Anteil türkischer Freiwilliger oder eingeschleuster Soldaten der türkischen Armee liegt. Als gesichert gilt aber, dass sie aktiv von türkischen Regierung und deren Geheimdienst unterstützt werden.
Im Video sprechen die Brigaden über ihr Ziel, ein osmanisches Kalifat zu errichten.
Diese Brigaden erhalten durch die Kombination aus völkischer Ideologie von einer Vereinigung der Turkvölker Türken und Turkmenen sowie der Verwendung radikal religiöser Rhetorik Zulauf und Zustimmung sowohl aus dem AKP- als auch aus dem MHP- Lager.
Unter dem Youtube-Video liest man u.a. folgende Kommentare.
Der User “Tayshaun prince” schreibt: “Die einzige Lösung ist Erdoğan. Die einzige Lösung ist die Scharia.”
“Konyalı Mehmet” schreibt im Bezug auf das Video der Brigaden von “Brüdern” und “Enkeln des osmanischen Bodens”, für die die Türken bereits wären, “ihr Leben zu geben”.
“Gök Tengri nin Çocukları” nennt die Brigaden die “Hoffnung” gegen die “arabischen Bastarde”.
Die turkmenischen Milizen als Vorboten türkisch-osmanischer Großmachtsbestrebungen und der Abschuss der russischen SU 24
Der Nahostexperte und italienische Großunternehmer Elia Valori meldete sich kurz nach dem Abschuss des russischen Militärflugzeugs SU 24 zu Wort.
Sein kompletter Text in italienischer Sprache kann hier nachgelesen werden: http://www.parmadaily.it/246128/elia-valori-la-russia-combatte-lisis-e-allora-si-capisce-perche-i-paesi-che-lo-appoggiano-abbattano-gli-aerei-russi/
Noch bevor deutsche und englischsprachige Medien analysierten, identifizierte Valori die Milizen, die den mittlerweile getöteten russischen Piloten in ihrer Gewalt hatten, als “zehnte Brigade der turkmenischen Rebellen”. Das beschreibt nichts Anderes als die o.g. Abdülhamid Brigaden. Valori fährt fort und spricht bzgl. dieser Brigade von “einer von unzähligen Organisationen in der Galaxie der Dschihadisten, die unmittelbar von der Türkei, Saudi-Arabien und Katar finanziert werden.”
Russische Medien berichteten, der Mörder des Piloten sei kein Turkmene, sondern ein Ultranationalist mit türkischer Staatsbürgerschaft.
Für Elia Valori stellt der Abschuss eine anti-russische Aktion dar, die sich an die Unterstützung und Rekrutierung dschihadistischer Milizen in Daghestan sowie weiteren muslimischen Teilrepubliken der russischen Föderation im gesamten Nordkaukasus anschließt. Die Reaktion des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Achmatowitsch Kadyrow bestätigt Valori. Dieser stellte kurz nach dem Flugzeugabschuss die Ausreise nach Syrien unter Strafe.
Valori geht noch einen Schritt weiter. Er ist überzeugt davon, dass die türkische AKP-Regierung eine Erweiterung ihres Territoriums um Teile Syriens, des Libanon und des Irak anstrebt. Ebenso richtet er deutliche Worte an die NATO. Sollte diese weiterhin die Türkei als Tür zum Nahen und Mittleren Osten verwenden und mit Saudi-Arabien zusammenarbeiten, würde das nordatlantische Militärbündnis sich zum Nachfolger einer unrühmlichen Allianz zwischen preußischen Königen und osmanischen Sultanen machen, die die Region weiter destabilisiere.
Ähnlich geartete, ungewöhnlich harsche Kritik ist auch aus den USA zu vernehmen. In einem mehr als 100.000 Mal gelesenen Artikel fordert der Außenpolitikexperte Doug Bandow im renommierten Magazin Forbes die Regierung der USA auf, die Allianz mit dem “neuen Osmanischen Reich”, das sich zu “einer immer größer werdenden Bedrohung für westliche Interessen und Werte” würde, aufzukündigen.
Bandows vollständige Analyse in englischer Sprache kann hier nachgelesen werden: http://www.forbes.com/sites/dougbandow/2015/11/25/turkey-downs-russian-plane-joins-with-islamic-state-u-s-should-drop-new-ottoman-empire-as-ally/
Christina Lin, Expertin für transatlantische Beziehungen an der SAIS-John Hopkins University in Washington DC, übt ebenfalls deutliche Kritik. Sie kritisiert den Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung und warnt die NATO davor, noch einmal auf die selbe Taktik hereinzufallen, die Ankara bereits bei der Invasion Nordzyperns erfolgreich verwendete. Sie nennt den Einmarsch der “Sultan Murat Brigaden” in Nordsyrien als ersten Schritt einer Annexion dessen, was von der türkischen Regierung bereits als 82. türkische Provinz propagiert wird: Nordsyrien inklusive des Großraums Aleppo. Ihre Analyse deckt sich mit Elia Valoris Ausführungen. Sie spricht von gesicherten Erkenntnissen seitens der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, über 2.000 aus dem Nordkaukasus, also Daghestan und Tschetschenien, rekrutierten Dschihadisten, die auf Seiten radikal islamistischer Rebellen wie der, mit den turkmenischen Brigaden verbündeten, Al Nusra Front über die türkische Grenze für türkische Interessen nach Syrien geschleust werden. Meldungen über Verbrechen an der turkmenischen Minderheit verbreiten zu lassen, ist für Lin ein innenpolitischer Schachzug, der durch das Ausspielen einer “völkisch-nationalistischen Karte” der AKP-Regierung breite Zustimmung in der Bevölkerung für ihre Expansionsbestrebungen einbringen soll.
Ihre aufschlussreiche, ausführliche Analyse zur aktuellen Lage und den Parallelen mit der Annexion Nordzyperns kann in englischer Sprache hier nachgelesen werden: http://blogs.timesofisrael.com/nato-turkey-annexation-of-north-syria-like-north-cyprus/
Die türkische Forderung nach einer Sicherheitszone umfasst ein Gebiet, dass die syrischen Metropolen Aleppo und Latakia umfassen sowie die kurdischen Kantone Afrin und Kobane voneinander trennen soll. Neben der Erweiterung des eigenen Territoriums, würden also die Kurdengebiete getrennt.
Nun hat das syrische Assadregime mit russischer und iranischer Unterstützung unter großem Jubel vor allem der schiitischen und christlichen Bevölkerung Aleppo befreit. Die Türkei und Saudi-Arabien drohen, da ihre islamistischen Milizen auf der Verliererstraße sind und das Ziel der Errichtung eines Kalifats in weite Ferne gerückt ist, offen mit dem Einmarsch von Bodentruppen in Syrien.
Die NATO darf sich nicht als Komplize für ein derartiges Vorhaben hergeben. Die Allianz zwischen Ankara und Riad ist die derzeit größte Bedrohung für die Weltsicherheit und offenbar bereit einen dritten Weltkrieg in Kauf zu nehmen. Das darf nicht passieren!