Das größte Grab fremder Stimmen.

Russland – Totengräber fremder Kulturen

Subtil war das nie. Nur vergessen haben wir es zu oft.

Russland nennt sich Kulturnation. Ein Reich der Dichter, Denker, Musiker, Maler. Man beruft sich auf klassische Komponisten, große Erzähler und berühmte Bühnenwerke, als sei das eine Art zivilisatorisches Alibi. Doch die Wahrheit ist bitter: Russland hat nicht Kultur geschaffen – Russland hat Kulturen ausgelöscht.

Nicht nur die eigenen Künstler wurden exiliert, ermordet oder zum Schweigen gebracht. Viel schlimmer noch: Russland hat andere Völker ihrer Stimmen beraubt. Systematisch, über Jahrhunderte. Was das Imperium nicht kontrollieren konnte, wurde verdrängt, verboten, vernichtet.

Russland war nie ein Vielvölkerreich im Sinne kultureller Koexistenz. Es war ein Assimilationsapparat. Vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zur heutigen Föderation galt eine eiserne Regel: Nur russische Kultur zählt. Der Rest wird bestenfalls geduldet – meistens aber unterdrückt.

Sprache, Religion, Literatur, Architektur – alles wurde dem russischen Zentrum untergeordnet. Wer Ukrainisch, Tatarisch, Georgisch oder Jiddisch sprach, galt als rückständig. Wer in seiner eigenen Sprache schrieb, riskierte Repression. Wer an kulturelle Autonomie glaubte, verschwand.

Die Ukraine ist das deutlichste Beispiel für diese koloniale Gewalt. Schon 1876 verbot der russische Ems-Erlass die Veröffentlichung ukrainischer Bücher. Ukrainisch wurde als Gefahr gesehen – nicht, weil es zu schwach war, sondern weil es zu stark war.

In der Sowjetzeit setzte sich der Angriff fort. Die sogenannte „erschossene Wiedergeburt“ – Hunderte ukrainische Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle – wurden in den 1930er Jahren verhaftet, deportiert, ermordet. Ihre Bücher verbrannt, ihre Sprache aus dem öffentlichen Leben getilgt.

Der heutige Krieg ist nur die Fortsetzung dieser Politik mit anderen Mitteln. Russische Raketen treffen gezielt Museen, Bibliotheken, Theater. Denn wer eine Nation zerstören will, zerstört zuerst ihre Kultur.

Im Zarenreich lebten Millionen Jüdinnen und Juden – eingesperrt in einem Ansiedlungsrayon, mit Quoten für Schulen und Universitäten, mit systematischen Berufsverboten. Wer ausbrechen wollte, brauchte Sondergenehmigungen. Wer trotzdem sichtbar wurde, als Künstler, Musiker oder Schriftsteller, geriet schnell ins Visier eines Staates, der alles bekämpfte, was nicht in sein nationalistisches Weltbild passte.

Die Sowjetunion übernahm diese Ausgrenzung – nur subtiler. Offiziell gab es keinen Antisemitismus. Aber im Pass stand unter „Nationalität“: Jude. Dieses Wort blockierte Zugänge – zu Bildung, Wohnraum, Karrieren. Die Diskriminierung war nicht laut, aber total.

Kulturelle Beiträge jüdischer Herkunft wurden erst gefeiert, nachdem ihre Urheber gebrochen, vertrieben oder zum Schweigen gebracht worden waren.

In Estland, Lettland, Georgien, Armenien, Kasachstan – überall dasselbe Muster: Die russische Sprache wurde zur Zwangsnorm. In Schulen, Universitäten, Behörden. Wer seine Muttersprache sprach, wurde belächelt oder sanktioniert.

Kulturelle Eliten wurden russifiziert, lokale Identitäten als Folklore degradiert. Ganze Generationen lernten nicht, ihre Geschichten zu erzählen – sondern sie zu vergessen. Die imperiale Ordnung hatte einen Namen, eine Stimme, eine Grammatik: Russisch.

Die russische Sprache war nie nur Kommunikationsmittel. Sie war immer Herrschaftsinstrument. Eine ideologische Waffe.

In der Ukraine verdrängte sie das Wort „kochaty“ (romantisch lieben) durch das sowjetisch-neutrale „ljubit“. Die Feinheiten verschwanden, die Gefühle wurden flacher, die Gedanken gleichgeschaltet. Sprache ist nicht nur ein Mittel – sie ist das Betriebssystem einer Kultur.

Und Russland hat dieses Betriebssystem systematisch überschrieben.

Mit jeder ausgelöschten Sprache stirbt ein Weltbild. Stirbt ein Lied, ein Witz, ein Gedicht. Stirbt ein Zugang zur Welt, der durch keine andere Sprache ersetzt werden kann.

Russland hat nicht nur Bibliotheken verbrannt und Dichter erschossen. Es hat Menschen ihre Stimme genommen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Verwüstung, die das russische Imperium kulturell hinterlassen hat, reicht tiefer als jede Armee vordringen kann.

Die russische Sprache dominiert nicht, weil sie überlegen ist – sondern weil sie mit Gewalt durchgesetzt wurde. Die russische Kultur gilt nicht als groß, weil sie Vielfalt vereint – sondern weil sie sie zum Schweigen brachte.

Und deshalb ist jeder Versuch, diese Imperiale Ästhetik weiter zu feiern, ein Schlag ins Gesicht derer, die zum Schweigen gebracht wurden.

Wer heute von russischer Kultur spricht, muss auch über ihre Opfer sprechen.

Wer russische Literatur bewundert, muss auch die verbrannten Bücher der anderen zählen.

Und wer Russland als Kulturnation verteidigt, verteidigt das größte Grab fremder Stimmen in Europa.

Russland war nie Heimat der Kultur.

Russland war immer ihr Totengräber.

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