Immer wenn ich solche Beiträge lese, fällt es mir ebenfalls schwer, an die Zukunft der EU zu glauben. Nicht nur wegen der zunehmenden Handlungsunfähigkeit der Union selbst, sondern besonders wegen der durchwegs negativen Stimmung. Nur wird letztere meistens nicht sonderlich schlüssig begründet. Wo liegen jetzt genau die Probleme?
Ist die EU undemokratisch?
Weiß der durchschnittliche EU-Kritiker, wie eine Entscheidung auf europäischer Ebene zustandekommt? Weiß er denn auch, dass bei jeder Entscheidung seine selbst gewählte, nationale Regierung im Rat der EU sitzt, ein Vetorecht hätte und somit mitbestimmt? Bei sehr weitreichenden Entscheidungen, z.B. betreffend Außenpolitik, herrscht sogar Einstimmigkeitsprinzip. Wie kommen dann manche dazu, von einer "EU-Diktatur" zu sprechen? Was kann demokratischer sein, als eine Abstimmung, bei der die Mehrheit entscheidet?
Auch bei der Person des Kommissionspräsidenten scheiden sich die Geister. Man muss Herrn Juncker natürlich nicht mögen, aber Fakt ist, dass er durch eine in ganz Europa abgehaltene demokratische Wahl in seine Position gekommen ist. Bei der letzten Europawahl angetreten als Spitzenkandidat der Konservativen, Wahl EU-weit gewonnen, jetzt Kommmissionspräsident. Genau gleich kommt üblicherweise unser Bundeskanzler zu seinem Posten. Und niemand würde diesem vorwerfen, er wäre nicht demokratisch legitimiert. Interessanterweise ist die Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen aber konstant niedrig - zuerst also nicht zur Wahl gehen, aber dann im Nachhinein fleißig sudern. Ist ja meine Lieblingskategorie. Früher wurde der Kommissionspräsident übrigens ohne Wahl ernannt (hatte aber auch andere Kompetenzen) - in der Hinsicht hat sich die EU also verbessert.
Mehr Durchsetzungsvermögen - mit weniger Kompetenz? Macht Sinn.
Ganz besonders beliebt auch der Vorwurf, die EU könne ohnehin nichts durchsetzen, hätte keine Macht; sichtbar geworden u.a. in der Flüchtlingskrise. Das ist natürlich teilweise richtig - aber was schlagen dann die EU-Kritiker als Alternative vor? Nicht etwa, dass man Brüssel stärken würde , mehr nationale Souveranität muss wieder her! Weg mit dem "Moloch" in Brüssel! Also soll sich die EU mehr durchsetzen - aber doch bitte mit weniger Rechten auskommen. Verstehe das, wer will. Die eierlegende Wollmilchsau, bei der alle Kernkompetenzen bei den Mitgliedsstaaten liegen, aber man irgendwie trotzdem immer zu einer gemeinsamen Entscheidung kommt, wird es jedenfalls nicht spielen. Das wird auch Strache spätestens mit Regierungsverantwortung erkennen müssen. Vielleicht überlegt man es sich bei der FPÖ aber auch noch fünfmal anders und schwenkt doch auf den EU-Zerstörerkurs von Marine Le Pen ein. Ich schweife ab...
Doch recht sparsam für ein Bürokratiemonster
Weiterhin ist es interessant, dass die gesamte EU-Verwaltung jährlich weniger kostet als die Verwaltung der Stadt Wien. Auch hat Österreich knapp fünfmal mehr Bundesbedienstete als die gesamte EU-Verwaltung Beamte braucht. Klar, die EU hat auch viel weniger und ganz anders gelagerte Aufgaben, MA 48 braucht die EU naturgemäß keine. Dennoch wird hier der Großteil der Rechtsmaterie für 28 EU-Staaten entworfen, es gibt einen Gerichtshof, eine Zentralbank... Fürwahr interessant, wie trotzdem mit Ausdrücken wie "Moloch" oder "Bürokratiemonster Brüssel" um sich geworfen wird.
Nur ein Zweckbündnis für Lobbyisten?
Der Lobbyismus in Brüssel, in Österreich gern personifiziert als Ernst S. (Der Arme hat sich halt erwischen lassen, gibt sicherlich noch mehr der Kategorie.), schlägt natürlich hohe Wellen. Zurecht, denn derartige Machenschaften wird kein einziger Bürger gutheißen können. Ich frage mich hier nur, warum hier besonders Brüssel so im Fokus steht. Wird denn in nationalen Hauptstädten nicht lobbyiert? Und in St. Pölten, in Wien (bezogen auf die Gemeindeebene) auch nicht? Natürlich kann man einwenden, dass ein größeres, mächtigeres Gebilde eine höheren Einfluss hat und es sich allein deshalb mehr auszahlt, an dieser übergeordneten Stelle zu lobbyieren. Das kann man nicht verleugnen und ist natürlich ein Nachteil. Grundsätzlich hätte eine starke politische Vertretung aber durchaus das Potenzial, sich den Interessen der Großkonzerne entgegenzustellen, deutlich mehr Potenzial als die einzelnen Mitgliedsstaaten für sich. Dass das bis heute nicht passiert, dass weiterhin Steuerschlupflöcher vorhanden sind, ist für mich persönlich der größte Kritikpunkt an der EU. Man muss sicherlich kein Sozialist sein, um die Ungerechtigkeit von niedrigen einstelligen Real-Steuersätzen zu erkennen, wenn jeder von uns, egal ob selbstständig oder Arbeitnehmer, das X-fache bezahlt.
Sind gemeinsame Normen wertlos?
Einigermaßen erstaunt war ich über die Aussagen von Norbert Hofer im heurigen Präsidentschaftswahlkampf, der sonst doch recht überlegte Aussagen trifft. Er sprach davon, dass sich die EU nicht über Sicherheitsstandards in Atomkraftwerken Gedanken mache, aber dafür Traktorsitze normiere. Damit mag er auch vielen Bürgern aus der Seele gesprochen haben. Nun ist der erste Teil dieser Aussage völlig falsch, der zweite Teil für mich nicht nachvollziehbar. Wem schaden denn europaweite Normen? Ist es nicht viel mehr Grundvoraussetzung für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, dass man möglichst viele genormte Produkte anbietet? Zu einem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum hat sich die FPÖ auch immer bekannt.
Das Beispiel der Traktorsitze ist vielleicht unfreiwillig komisch gewählt; stellen wir uns generell vor, meine Firma erzeugt irgendein Produkt und will dafür ein Teil aus einem anderen EU-Land zukaufen. Wenn dieses Teil nicht denselben Sicherheitsstandards und Normen unterliegt, wie es mein Land vorschreibt, kann ich es auch nicht zukaufen. Und ja, das ist auch bei einem Traktorsitz so. Damit der Traktor zu einem konkurrenzfähigen Preis auf den Markt gebracht werden kann, würde es nicht schaden, wenn die Sicherheitsbestimmungen für Traktorsitze in 28 Ländern gleich sind und er damit in ganz Europa gleichermaßen angeboten werden kann, nicht nur im Land des Erzeugers.
Außendarstellung: Mangelhaft, aber auch schwierig!
Ein weiteres großes Problem ist die Kommunikation der EU mit den Bürgern. Der Fairness halber muss man aber anmerken: Dass eine Institution mit Sitz in Brüssel sich von Natur aus schwerer tun wird, bürgernah zu wirken und direkt zu kommunizieren als eine Landesregierung, die mit Zeltfest-Reden und Auftritten im Lokalradio für sich Werbung machen kann, dürfte einigermaßen einleuchten. Allein die Sprache könnte hier ein Hindernis darstellen.
Schwerwiegend kommt noch hinzu, dass es eine Untugend unter Politikern ist, immer der nächsthöheren Ebene die Schuld an unangenehmen Entscheidungen zuzuschieben. Der Landespolitiker schimpft gern über die Entscheidungen in Wien, in Wien schimpft man dann über Brüssel. Und dort bleibt die Kritik dann. Wer mehr Verantwortung trägt und mehr zu entscheiden hat, wird automatisch auch mehr Kritik an sich ziehen - das kennt wohl jeder aus dem eigenen Berufsleben. Ein Landeshauptmann, der seine Daseinsberechtigung wohl hauptsächlich aus der Notwendigkeit für neun verschiedene Jugendschutzgesetze und dem Verteilen von Förderungen inkl. anschließenden Eröffnungsfeiern bezieht, wird hier automatisch besser dastehen als ein EU-Politiker. Vielleicht findet der EU-Kommissar für Regionalentwicklung ja einmal Zeit, irgendwo im Burgenland (EU-Nettoempfänger-Region) einen Kreisverkehr zu eröffnen und so das Ansehen der EU zu steigern...
Die am häufigsten gehörte Kritik ist ein Märchen
Zu guter Letzt möchte ich noch anfügen, dass die vielzitierte Gurkenkrümmungs-Verordnung von Brüssel aus nichts als ein Märchen ist. Dürften viele schon gehört haben, wird aber in vielen Diskussionen sicher bis heute vorgebracht. Reglementierungen zu diesem Thema gibt es in Österreich seit 1968 (für die Jüngeren: Wir waren damals noch nicht dabei), auf Wunsch des Handels. EU-Bürokraten haben sich das also nicht ausgedacht. Abgeschafft wurde die Regelung im Jahr 2009 - durch eine Entscheidung in Brüssel. Und erklärten Gegnern der Energiesparlampe kann ich nur den Griff zu LEDs empfehlen - es zahlt sich aus!
Kurzer Ausblick
Was könnte die Stimmung gegenüber der EU noch umkehren? Im Mai 2016 könnte man in Österreich etwas recht Interessantes beobachten: Allein der Austausch des Bundeskanzlers kalmierte die sehr, sehr aufgeheizte Stimmung gegen die Bundesregierung zumindest fürs Erste. Tatsächlich scheinen Personen nicht weniger wichtig zu sein als Sachpolitik. Denn die Aussagen des Herrn Kern waren die gleichen, die man von der ehemals Großen Koalition schon immer gehört hatte. "Wir haben verstanden." etc. hörte man so oder so ähnlich schon sehr oft. Zieht man Stand Ende September Bilanz, könnte man jetzt keine großen Verbesserungen feststellen, die Stimmung ist aber trotzdem (etwas) besser als vorher. Könnte so ein Personalaustausch also auch der EU helfen? Ich persönlich habe jedenfalls den Eindruck, dass die Personen Juncker, Schulz, Merkel, Hollande inzwischen schon derart "verbraucht" sind, dass allein ein Personalwechsel schon einiges bewirken könnte.
Wie man die Schaffung eines europäischen Bewusstseins, das es aus ein meiner Sicht momentan überhaupt nicht gibt, angehen könnte? Schwierig. Zumindest für unsere Generation ist der Zug sicher abgefahren. Helfen würde die Etablierung von Englisch als zweite Sprache neben der angestammten Landessprache. Die Skandinavier, die bildungspolitisch auch sonst gut drauf sind, machen es uns vor, dort ist diese Entwicklung schon sehr weit. Wenn sich alle EU-Bürger interkontinental wirklich effektiv verständigen könnten, wäre das ein Riesenfortschritt. Allein der Glaube daran fehlt, Franzosen oder Italiener würden sich da wohl in hundert Jahren noch verweigern. Helfen und durchaus nicht unrealistisch wäre die erst diese Woche aufgekommene Idee eines gesponserten Interrail-Trips durch Europa - unterstützt durch EU-Gelder. Sicherlich nicht uninteressant für junge Erwachsene, große europäische Städte auch einmal außerhalb des Flughafens kurz kennenzulernen. Internationale Bekanntschaften würden einige Mauern in den Köpfen der Menschen einreißen und dazu beitragen, uns trotz aller Unterschiede etwas mehr als Europäer zu sehen. Natürlich steckt diese Idee noch völlig in den Kinderschuhen - aber ist sicherlich überlegenswert.