1984 entdeckte ich auf dem Flohmarkt auf dem Wiener Naschmarkt einen defekten mechanischen Wandkalender. Mit seinem schwarz-weiß-goldenen Dekor würde ich ihn zwischen Jugendstil und italienischem Futurismus ansiedeln – er erinnert mich an ein Kunstwerk von Umberto Boccioni in der Tate Modern.
Bei näherem Hinsehen handelt es sich bei dem Kalender, der auf Holz aufgezogen und mit einer Glasscheibe abgedeckt ist, um einen Werbeartikel für die “Verkaufsgesellschaft der Vereinigte Oberschlesische Hüttenwerke AG Gleiwitz”. Dies war anscheinend ein Eisen- und Stahlwerk, das 1926 gegründet wurde, als Gleiwitz (heute Gliwice, seit 1945 in Polen) zu Deutschland gehörte.
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Der Kalender erinnert an die turbulente Geschichte Mitteleuropas. Der (englische) Wikipedia-Eintrag zu Schlesien, Silesia, das heute größtenteils in Polen liegt, zeigt als Erstes eine Karte von „Österreichisch-Schlesien vor der preußischen Annexion 1740“, und im historischen Teil geht es um Kelten, slawische Stämme, Mähren, Böhmen, Polen, den Mongolensturm, deutsche Siedler, schlesische Herzogtümer, die Habsburger Monarchie, den Dreißigjährigen Krieg, die polnische Herrschaft, Preußen, die napoleonische Ära, das Deutsche und das Österreichisch-Ungarische Reich und die beiden Weltkriege.
Ein von SS-Männern fingierter Angriff auf den Radiosender Gleiwitz am 31. August 1939 diente als Vorwand für den Überfall auf Polen, den Beginn des Zweiten Weltkriegs. In Gleiwitz befanden sich auch Nebenlager des Konzentrationslagers Auschwitz.
Die komplexe und zuweilen düstere Geschichte von Gleiwitz/Gliwice wirft die Frage auf, inwieweit man ein Objekt schätzen kann, das, obwohl äußerlich nicht zu beanstanden, an diese Geschichte erinnert. Ich wüsste gern, wie Andere das sehen.
Vorerst benutze ich den Wandkalender weiter, obwohl die Glasscheibe unter meinen vielen Umzügen seit 1984 etwas gelitten hat. Damals habe ich den Kalender instandgesetzt, indem ich den Papierstreifen hinter dem Glas mit Hilfe eines Streifens Denim von einer alten Jeans reparierte. Der Mechanismus funktioniert –noch.
