Diesen Text hat Niklas Golitschek verfasst, die Interviews haben wir gemeinsam geführt, Ergänzungen und Fotos sind von mir.
Jeden Abend treffen sie sich zwischen dem Parlamentsgebäude und dem Sitz des Präsidenten; manche Plakate und Demonstrant:innen bleiben dauerhaft und sind auch tagsüber in und an ihren Zelten anzutreffen.
Lena Reiner www.menschenfotografin.de
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Korruption und fragwürdige Machtverhältnisse innerhalb des Staates verlangen aus ihrer Sicht tiefgreifende Veränderungen: Nicht nur manipulierungsfreie Neuwahlen des Parlaments verlangen sie daher sondern auch eine Verfassungsänderung. Damit soll sichergestellt sein, dass sich die gefestigten Strukturen nicht weiter halten. „Оставка — Rücktritt” lautet der Ruf der Demonstrant:innen. Die Forderung findet sich auch auf zahlreichen Plakaten und sogar auf bedruckten T-Shirts.
Margarita Krasteva hat sich vor knapp zwei Wochen den Protesten angeschlossen. „Man kann von uns nicht erwarten, diese Scheiße länger zu ertragen“, sagt sie. Seit mehr als zehn Jahren sehe sie, wie die Korruption der Bevölkerung schade; Themenfelder wie Bildung, Gesundheit, Infrastruktur weit unter den Möglichkeiten des Landes lägen. „Ich bin gegen die Mafia und den dummen — Entschuldigung für die Wortwahl — Premierminister.“
Ananiev, von 2014 bis 2017 Parlamentsmitglied und Unternehmer, lebt nach elfjährigem Aufenthalt in Irland seit 2008 wieder in Bulgarien. „Wenn du in einer Art normalem europäischen Land gelebt hast, du hier her zurückkommst und siehst, dass eine Menge Dinge nicht richtig laufen, fängst du an, dich zu fragen: Wieso funktioniert es dort und hier nicht?“, schildert er seine Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Wegen dieser Missstände würden viele Bulgar:innen ihr Glück im Ausland suchen — und diese Diaspora unterstütze die Proteste nun aus aller Welt.
Nach Beispielen gefragt, muss Ananiev nicht lange überlegen: „Du kannst überall Hinweise auf Korruption finden.“ Als jüngstes Beispiel nennt er die Hilfspakete, um die wirtschaftlichen Schäden der Coronavirus-Pandemie abzufedern. 812 Millionen Euro Schulden hat die Regierung an frischen EU-Geldern erhalten. Hinzu kommen 358 Millionen Euro an ungenutzten Geldern, die nun dafür verwendet werden dürfen. Doch habe es niemanden erreichen. „Wenn du ins Stadtzentrum gehst, kannst du die ganzen leeren Läden sehen“, sagt er. Diese Entwicklung gebe es erst seit der Pandemie. Die Kriterien seien schlichtweg zu kompliziert gewesen.
Noch mehr erzürnt Ananiev das Ergebnis des EU-Förderprogramms für den ländlichen Raum, in dessen Rahmen der Tourismus durch die Schaffung neuer „Bed & Breakfasts“ gestärkt werden sollte. „Sie haben Geld gegeben, um Privathäuser zu renovieren und Gästezimmer zu schaffen“, schildert der Politiker. Später habe sich jedoch gezeigt, dass in 5000 Fällen — der Hälfte des gesamten Förderprogramms — die Häuser, darunter Villen, von Menschen renoviert wurden, die der Regierungspartei nahestanden. „Das ist für mich ein klarer Fall von Korruption“, unterstreicht Ananiev.
Für ihn ist das jedoch nur die Spitze des Eisbergs. „Wir verstehen nicht, wieso Europa nicht reagiert“, sagt er. Er könne ja verstehen, wenn Menschen denken, das sei ein bulgarisches Problem. „Aber diese Regierung stiehlt euer Geld“, sagt er mit Blick auf die veruntreuten EU-Gelder. Die Gleichgültigkeit der anderen Regierungen schwäche am Ende die Glaubwürdigkeit der Union und diene Anti-Europäischen-Bewegungen. „Wieso sollen wir in der EU bleiben? Niemand interessiert sich für uns“, umreißt er den Gedankengang.
In diesem Zusammenhang stieß in Bulgarien auch eine Stellungnahme des Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei (EPP) und CSU-Politikers, Manfred Weber, sauer auf. Der ließ im Juli verlauten, dass die Regierung von Boyko Borisov (Бойко Борисов, Alternativschreibweise im Deutschen: Borrisow) die volle Unterstützung der EPP genieße: im Kampf gegen das Coronavirus und die Korruption. Dabei gibt es seit Jahren Berichte, die auf Korruption auch in Borissovs Umfeld schließen lassen.
Velislav Minekov (Велислав Минеков), einer der drei Initiatoren der aktuellen Großdemonstrationen, geht sogar so weit, zu sagen, dass die EU-Mitgliedschaft die Korruption in Bulgarien noch verschlimmert hat. „Ich verstehe nicht, wieso wir ein Teil von Europa sind. Wir sind total vergessen“, kritisiert er. Es gebe immer wieder Fördergelder, dafür sollten die Menschen schweigen und Missstände nicht ansprechen. Mit Geld aus Deutschland und Frankreich habe Brüssel eine starke Mafia geschaffen. „Eine echte Oligarchie — mit demselben Geld“, sagt er.
Mit dem Korruptionsgeld habe eine kleine Elite zuerst Medien aufgekauft und die Kontrolle im Land übernommen: „Das ist wie in der osmanischen Zeit: Jemand hat ein Dorf, ein anderer eine Stadt. Alle zusammen Bulgarien in ihren Händen. Schritt für Schritt.“ Auf dem Land sei diese Art des Feudalismus deutlich ausgeprägter als in der Hauptstadt Sofia, sagt Minekov. Er selbst habe mit Bauunternehmern gesprochen, der ihm erzählt habe, er könne etwa Straßenbauprojekte für 15 Prozent der EU-Fördersummen umsetzen; ein lukratives Geschäft zulasten der Infrastruktur.
Von Beruf ist Minekov Bildhauer und in Bulgarien schon seit einigen Jahren als Regierungskritiker bekannt. Das habe ihm auch schon zerbrochene Fensterscheiben, Autobrände und Morddrohungen eingehandelt, erzählt er trocken. Das Fass zum Überlaufen brachte jedoch ein anderes Ereignis: Im Juli ließ Generalstaatsanwalt Ivan Geschev (Иван Гешев) bei einer Razzia im Präsidialamt zwei Mitarbeiter vorläufig festnehmen.
Selbst der respektierte Präsident Rumen Radew (Румен Радев) sprach anschließend vom „Mafia-Charakter der Regierung“. Minekov beschreibt den Generalstaatsanwalt als rechte Hand der Oligarchie mit schlechtem Ruf. Diese Bilder seien zu viel gewesen: „Er ist rein in das Präsidentengebäude mit bewaffneten Personen mit Automatikwaffen und Schutzwesten — wie Banditen.“ Er beschloss mit zwei Bekannten, dem Anwalt Nikolay Hadjigenov (Николай Хаджигенов) und dem Kommunikations-Experten Arman Babikyan (Арман Бабикян), einen Protest zu organisieren; dank einer Fernsehsendung kamen sie zum unrühmlichen Namen „Gift-Trio“ (Отровното Трио). Inzwischen gibt es T-Shirts mit einer grünen „3“, die Unterstützer:innen stolz tragen; die Facebookseite des Trios hat mehr als 50.000 Likes. „Wir sind die National-Idioten; jeder kennt uns“, kommentiert Minekov und lacht.
„Um 11 Uhr haben wir gesagt, wir müssen dort sein“, erinnert sich Minekov an den ersten Demonstrationstag. Vier Stunden später seien sie mit 50 Leuten auf dem Platz gewesen, um 18 Uhr mit 100 — eine Enttäuschung. Doch plötzlich: „Um 20 Uhr waren es 16.000 Leute. Am zweiten Tag 20.000. Am dritten 24.000.“ Bei den Großdemonstrationen seien es bis zu 140.000 gewesen. „Für Bulgarien ist das echt etwas Unglaubliches“, hebt Minekov hervor; das Land zählt sieben Millionen Einwohner, die Hauptstadt Sofia rund 1,2 Millionen.
Was die Demonstrant:innen mit ihren Protesten bewirken wollen? Weit mehr als nur den Rücktritt des mächtigen Generalstaatsanwalts und der gesamten Regierung. „Zuerst raus mit der Mafia und dann eine neue Verfassung“, sagt Minekov.
Mit einer sogenannten Riesenversammlung von 400 Abgeordneten, mehr als doppelt so viele wie das aktuelle Parlament beherbergt, solle der Generalstaatsanwalt entmachtet werden. Für diese Neuwahlen fordern die Menschen zudem elektronische Wahlen und eine flächendeckende, durchgehende und kompetente Beobachtung, um Betrug und Fälschungen vorzubeugen.
Jüngst haben die Demonstrant:innen immerhin einen Erfolg erzielt: Durch Daniel Freund, Europaabgeordneter für die Grünen, der sich gegen Korruption, Geldwäsche und Steuerflucht einsetzt, erhalten sie nun Unterstützung aus Brüssel. „Wir müssen uns der unangenehmen Wahrheit stellen, dass im Grunde Milliarden von Euro aus Steuerzahlergeldern durch die Mitgliedsstaaten ungeprüft und unkontrolliert ausgegeben werden“, klagte er bei der Demonstration Ende September unter Jubelrufen der Menschen an. Das Parlament verfüge über eine Mehrheit, um diese Praxis zu ändern und Rechtsstaatlichkeit an die Vergabe von EU-Geldern zu knüpfen. „Aber ein paar nationale Regierungen blockieren das.“
Zwar weiß Velislav Minekov nicht, wie lange die Dauerproteste noch weitergehen können. „Es gibt eine Gefahr, dass unser Protest zerstört“, sagt er mit Blick auf die hohen Kosten und den großen Organisationsaufwand. Doch hofft er, dass Brüssel bald nicht mehr nur nach Sofia schaut, sondern auch endlich handelt. Am 5. Oktober soll Premierminister Borisov im Europaparlament sprechen — dann will auch Minekov dabei sein und die Sichtweise der Bürger:innen darlegen.