Ich sitze beim Frauenarzt und habe mit meinem bisherigen Leben abgeschlossen. Ich habe Tripper, Aids und bin schwanger. Und das alles vom Coach. Oder von Dustin. Ich weiß nicht. Auf jeden Fall ist etwas nicht in Ordnung und der Beweis dafür steigt mir, wenn ich mich vornüber beuge in die Nase. Gestern habe ich den peinlichsten Moment meines Lebens erlebt. Etwas peinlicheres kann man, glaube ich, wirklich nicht erleben. Es gibt keine Steigerung an ekelhafter Peinlichkeit als das, was ich gestern erlebt habe. Aber ich fange weiter vorne an.
Dustin kenne ich schon länger. Er ist mir in Wien immer wieder auf Parties über den Weg gelaufen. Er studiert Mikrobiologie, hat eine Halbglatze und trägt immer den gleichen roten Kaschmir Schal. Er ist mir nie besonders aufgefallen, auch wenn wir uns immer gut verstanden haben. Dustin ist allerdings ein Typ, den man auf jeder Party trifft. Immer und überall. Als ich über Weihnachten in Wien war, bin ich mit Thera, meiner besten Freundin, auf die Weihnachtsfeier der Filmuni gegangen. Als wir die heiligen Hallen der privilegierten Filmstudenten betraten bekam Thera mal wieder Besuch von ihren Minderwertigkeitsgefühlen und kompensierte diese prompt mit abwertenden Bemerkungen. Musik scheiße. Leute scheiße. Abend scheiße. Party scheiße.
In der Hoffnung das Ruder noch umzureißen dränge ich mich vor bis zur Bar. Ich bestelle einen Wodka nach dem anderen und langsam werden Thera und ich lustig. Na Gott sei dank, geht doch. Wir mischen uns unter die Party und ich erkenne viele bekannte Gesichter. Immer die gleichen Leute in Wien. Ich könnte Luftsprünge machen so wohlig ist mir mit all dem Wodka und all dem Bekannten. Als ich Nachschub brauche und zur Bar wanke kommt mir Dustin entgegen.
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„Laut Facebook bist du in Berlin. Was machst du denn hier?“
„Kaugummi kauen. Juicy Fruit. Ist lecker. Willst du probieren?“
Ich ziehe ihn zu mir runter und stecke ihm die Zunge in den Mund. Er küsst erstaunlich gut! Den Rest des Abends verbringe ich knutschend in einer Ecke und kann mich nur schweren Herzens von diesem komisch schmeckenden Mund losreißen. Er riecht nach Hautpilzcreme. Woher ich weiß wie Hautpilzcreme riecht? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß auch wie Tausendfüßler riechen.
Auf der Fahrt nach Hause schaut mir Thera vorwurfsvoll nicht in die Augen und ich fühl mich schlecht. Ich verstehe das nicht. Ich werde das nie verstehen. Ich hab gerade mit jemanden geknutscht! Das ist doch eigentlich erfreulich! Frigide Kuh. Die gönnt mir das schwarze unter den Fingernägeln nicht. Seit Jahren fällt es uns schwer, uns in die Augen zu schauen. Ganz selten geht es. Dann sind wir beide sehr froh. Jeder für sich. Denn geredet wird darüber nicht. Bin ich froh, dass wir gerade in verschiedene Städten wohnen. Aber vielleicht bin ich auch die Dumme und verstehe nur nicht worum es geht. Eigentlich ist sie nämlich ziemlich toll.
Nach Weihnachten treffe ich Dustin in Berlin wieder. Er ist so süß und nervös und ganz hin und weg von mir und in dieser Spiegelung finde ich mich selber auch ganz toll. Als wir endlich miteinander schlafen stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass er im Bett plötzlich gar nicht nervös ist und ganz genau weiß was er tut. Ich bin entzückt. Zwei Wochen sind wir ein Herz und eine Seele. Ich schreibe an meiner Diplomarbeit und er an seiner Bachelorarbeit. Alle zehn Minuten lesen wir uns gegenseitig vor, was wir geschrieben haben und finden es immer ganz ganz toll.
Eines Abends, wir sitzen gerade in einem Italiener am Kurfürstendamm, bemerke ich, dass ich etwas für ihn empfinde. Verdammte Scheiße.
Ich schau ihm zu, wie er genüsslich sein viertes Stück Minipizza verdrückt und freue mich darauf die Nacht mit ihm zu verbringen. Wir lachen viel und die Stimmung ist vergnügt.
Im Auto reflektiere ich besonnen die neuesten Gefühlsanwandlungen und ganz unvermittelt steigt Panik in mir hoch. Möchte ich heute wirklich mit ihm nach Hause fahren oder ist das bereits der erste Automatismus, der irgendwann alles zerstört? In mir verdunkelt es sich plötzlich und ich ziehe meinen Schal bis zur Nasenspitze hoch. Ein bekanntes Gefühl von Heimweh macht sich in mir breit. Heimweh nach etwas mir völlig Unbekannten. Nach etwas, dass ich nicht kenne. Ich bin beleidigt. Auf mich. Auf Dustin. Auf die Welt. Auf Thera, die mir nix gönnt. Auf die Medienwelt, die ein falsches Bild von Liebe produziert. Weshalb jede Liebesbeziehung lahm und unspektakulär wirkt, weil man aus Film und Fernsehen was anderes kennt. Ich hasse diese Arschgeigen! Ich hasse diese Welt. Früher war doch alles einfacher, oder?
Zu Hause angekommen, dreht Dustin den Fernseher an. Es läuft eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg. Genau das richtige jetzt für mich und mein graues Gemüt. Und tatsächlich fühle ich mich langsam besser. Ich stolpere gedanklich über eine Überlegung, die mir schon öfter mal begegnet ist und mit der ich ein kameradschaftliches Verhältnis pflege, wie gute Nachbarn, die immer wieder mal im Stiegenhaus tratschen. Der Mensch braucht eine globale Bedrohung um glücklich zu sein. Einen Krieg, ein Erdbeben, einen Vulkan, ein Atomkraftwerk, King Kong, Gozilla, irgendwas gegen das man sich als Kollektiv verbünden kann und ohne dem alles besser wäre. Dieser Konjunktiv verbirgt das Glück der Menschheit. Ohne Konjunktiv gibt es keine Aussicht auf eine Steigerung und man verfällt in Stagnation. Meine Generation ist depressiv, drogenabhängig und nostalgisch. Wir hängen uns alte Kameras um den Hals und setzen uns hässliche Hornbrillen auf die Nase in der Hoffnung, dadurch ein bisschen was von der alten, besseren Zeit zurück zu bekommen. Unsere Zeit ist so furchtbar hoffnungslos. Jeder ist gefragt sich selbst innerhalb des Berufs zu verwirklichen. Ich will mich nicht verwirklichen. Ich bin schon wirklich. Und vor allem will ich nicht, dass sich jeder Hanns Wurst selbst verwirklicht. Das ist doch anstrengend. Und zwischendurch, wenn man gerade Pause hat vom Selbstverwirklichen, geben wir uns die Kante. Eigentlich so oft es nur geht. Feiern, das können wir.
Trotzdem wünschte ich mir manchmal einen Krieg. Wie toll das sein muss, sich wirklich Sorgen zu machen. Irgendwie schäm ich mich auch für meine Gedanken. Aber ich finde das Leben des einzelnen Individuums heutzutage vollkommen überbewertet. Ich verstehe nicht, warum der Tod das allerschlimmste Übel sein soll. Vor allem die Vorstellungen des eigenen Todes treibt den Mensch in den Wahnsinn. Von Nahtoterfahrungen berichten Betroffene mit zittrigen Stimmen und starrem Blick. Völlig aufgelöst und traumatisiert. Ich finde es ganz schön narzisstisch dem eigenen Tod so eine scheiß Ehrfurcht entgegenzubringen. Es gibt schlimmeres als den Tod. Zerrüttete Familienverhältnisse. Gewalt. Depression. Alles was das Leben zu Lebzeiten verschlechtert. Jeder muss irgendwann sterben. Das ist gewiss. Man sollte sich selbst und das Leben einfach mal nicht so wichtig nehmen und tun was gut tut. Mir und dem anderen.
Deshalb reiß ich mich jetzt auch zusammen und höre auf zu schmollen. Ich ziehe mich aus und leg mich ins Bett. Dustin kommt dazu. Obwohl ich meine Tage noch ein bisschen habe, möchte ich mit ihm schlafen. Ich raune ihm diese Information ins Ohr und füge noch hinzu, dass Oralverkehr deshalb ausgeschlossen ist. Er sagt mir, dass „Oralverkehr“ das ekelhafteste Wort ist, dass er kennt und bittet mich es aus meinem Wortschatz zu streichen. Ich verstehe so Allergien. Ich finde „Sack“ ganz schlimm. Oder „röcheln“.
Was Dustin nicht wusste und auch ich erst zwei Wochen später bei der Frauenärztin heraus finden sollte, ist, dass in dem Moment als er in mich eindrang noch ein Tampon in mir parkte. Dustins Penis schob an jenem Abend den Tampon so weit in mich hinein, dass er dort ohne gestört zu werden, zwei Wochen vor sich hin vegetierte. Das war auch der Grund für den Gestank, der mir beim Warten auf meine vermeintliche Tripper Diagnose in die Nase stieg.
Nicht nur ich hatte mit diesem Geruch zu kämpfen. Auch Dustin wunderte sich die letzten male über meinen überirdisch starken Intimgeruch, der ihn unweigerlich an den im Sommer viel besuchten Fischmarkt in Vietnam zurück versetzte. Die ersten paar male haben wir den Mief noch verdrängt, doch die letzte Nacht war der Geruch nicht mehr vertretbar und wir mussten uns während er noch in mir steckte, eingestehen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Das war der unangenehmste Moment meines bisherigen Lebens.