Unsere Gesellschaften in Europa sind sehr stolz darauf, wie weit wir uns, was persönliche Freiheit, Gleichberechtigung und Demokratie anbelangt, bisher entwickelt haben. Allerdings leisten wir uns auch Rückständigkeit und Doppelmoral, die uns nun im Umgang mit anderen Kulturen auf den Kopf fällt und uns auch vorher schon gründlich geschadet hat. In vieler Hinsicht ist unsere Kultur auch erst auf halbem Weg und die Konfrontation mit einer extrem konservativen Kultur zeigt uns jetzt, wie toxisch das für uns alle ist.
Ich möchte drei Bereiche herausgreifen, die diesen Sachverhalt meiner Meinung nach sehr gut illustrieren. Der Umgang mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Umgang mit der Religion und fehlenden Berührungsängste des Kapitalismus mit der Tyrannei. Drei Gretchenfragen müssen wir uns stellen:
Wie haltet ihr es mit den Frauenrechten?
Die Vorfälle in Köln haben gezeigt, wie uns halbherziges Bekenntnis zur Emanzipation zerbröselt, wenn es mit offener Frauenfeindlichkeit konfrontiert wird. Ja, die Täter haben sich hemmungslos an Frauen vergriffen, aber die Kultur des Totschweigens und Herunterspielens („ruhige Nacht“ und „die finden wir nie, da waren so viele Leute und keiner hat was gesehen“, trotz immer mehr Anzeigen und konsequenterweise auch Zeuginnen), die danach sofort von den Polizeioberen angewandt wurde, das ist unsere ur-eigene Vergewaltigungskultur, die nun langsam aufbricht (wenn ich mich auch der Befürchtung nicht erwehren kann, dass wir das nur der Tatsache zu verdanken haben, dass hinter dem Fremdenhass sogar der Frauenhass mal zurückstecken muss).
Die Wahrheit ist, wir brauchen Gesetze, die auch Grapschen unter Strafe stellen und eine Exekutive, die Anzeigen wegen sexueller Belästigung auch endlich konsequent ernst nimmt und verfolgt. Vielleicht entwickeln wir uns jetzt endlich in diese Richtung.
Einen Bericht wie diesen hätte ich bis vor ein paar Tagen noch für unmöglich gehalten, weil eine Anzeige komplett sinnlos gewesen wäre und das Opfer sich sonst welche Sachen hätte anhören können, wie sehr sie doch selber schuld ist. Es ist gut, wenn wir uns von dieser Victim Blaming Kultur endlich befreien.
Bleibt nur zu hoffen, dass es dann auch irgendwann egal sein wird, welche Hautfarbe Täter und Opfer hatten und ob eine Vergewaltigung am Domplatz, im Flüchtlingsheim oder am Zeltfest passiert ist.
Wie haltet ihr es mit der Religion?
In Österreich wird der Religion immer noch eine starke Sonderstellung eingeräumt. Konfessionelle Schulen erhalten massive staatliche Förderungen (alternative Schulmodelle, die nichts mit Religion zu tun haben, nicht). Religion wird an allen Schulen standardmäßig verbreitet und die Kirchen können sich aus dem Ausland querfinanzieren lassen, egal was sie von sich geben. Sehr viel Intoleranz und Hass (gegen Frauen, Homosexuelle, whatever), die von Religionen aus propagiert werden, kommt unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit (die andere Freiheiten (wie die Meinungsfreiheit) mit Begeisterung beschneidet) davon.
Auch hier sieht man wieder schön, den halben Weg, auf dem wir stecken geblieben sind. Christliche Privilegien wurden nicht abgebaut, sondern einfach auf andere Religionsgemeinschaften ausgeweitet und jetzt ist der Katzenjammer groß, wenn in Wiener Kindergärten mit städtischer Förderung Koransuren auswendig gelernt werden.
Viel früher schon und im Bezug auf alle Religionen hätten wir uns auf echten Laizismus einigen sollen, der Religion zur Privatsache macht und nicht in die Schulen lässt. Paragraphen, die Religionen davor schützen, dass man sich über sie lustig macht („Herabwürdigung religiöser Lehren“), gehören ersatzlos gestrichen. Wir brauchen keine Speziallegislatur für den Islam, wir brauchen ein säkulares Gesetzbuch für alle.
Wie haltet ihr es mit dem Geld?
Zurecht wird uns allen schlecht wenn wir von Gräueltaten des IS erfahren, aber gleichzeitig kaufen wir Öl von Saudi Arabien, einem Land, das die Tyrannei des IS längst zum Alltag gemacht hat, inklusive Peitschen, rollender Köpfe, abgehackter Hände und Frauen die nur in mobilen Gefängnissen mit einen männlichen Wärter auf die Straße dürfen.
Wieso hören die Saudis nicht jedes Mal, wenn sie einen Tropfen Öl verkaufen wolle „Nein, danke, von so jemand kauf ich nichts.“? Der Benzinpreis darf uns nicht mehr vor die Menschenrechte gehen.
Wir hoffen das Flüchtlingsproblem löst unser Freund, Islamist und Terrorfinancier, der Erdogan, der in der Türkei mit seiner Kurdenverfolgung einen Bürgerkrieg anzettelt, der unter Umständen, die jetzigen Flüchtlingswellen in ein paar Jahren extrem blass aussehen lassen wird.
An den wollen wir uns anbiedern? Geld für Grenzsicherung schicken (anstatt die Grenzen selber zu sichern) Reisefreiheit anbieten? Wirklich?
Diese Doppelmoral wird uns ganz ganz grässlich auf den Kopf fallen, wenn wir nicht endlich lernen, unsere Prioritäten weg vom Geld zu setzen.
Und was nun?
Wir können natürlich darauf bauen, Menschen aus anderen Kulturen einfach nicht aufzunehmen und ihnen keine Möglichkeit geben, sich von den Zwängen und der Gewalt in ihrer Heimat zu befreien, während wir uns ihren Machthabern für Geschäftsbeziehungen antragen. Wir können unsere Menschlichkeit über Bord werfen, weil wir zu schwach sind unsere eigene Doppelmoral zu überwinden.
Wir können statistisch gefährliche demographische Gruppen umzäunen und ausgrenzen, aber wie es etwa Kanada tut, das keine männlichen heterosexuellen Flüchtlinge mehr aufnehmen will.
Die Alternative ist, wir stellen uns der Herausforderung, werfen unsere eigene Doppelmoral über Bord und kämpfen gegen die eigentlichen Probleme (Gewalt, Engstirnigkeit, Frauenhass und Tyrannei) in jeder Demographie und vertreten offensiv eine freie und offene Gesellschaft. Eine Gesellschaft wo sexuelle Belästigung ernst genommen und konsequent verfolgt wird. Eine Gesellschaft wo wir unsere Freiheit mit Stolz zeigen (wie es nun Milo Moiré am Domplatz in Köln getan hat). Eine Gesellschaft in der Religion Privatsache ist und religiöse Menschen nicht mehr oder weniger Respekt bekommen, als solche die es nicht sind. Eine Gesellschaft, die Geschäfte mit Tyrannen ablehnt und nicht müde wird die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern und durchzusetzen.