Die letzten Wochen war mein Facebook-Newsfeed vollgestopft mit den Bildern toter Kinder, zerstörter Häuser, verwüsteter Landstriche und allerlei wütenden Solidaritätsbekundungen für die Menschen in Palästina, zum Ausdruck gebracht nicht ausschließlich, aber mehrheitlich von Muslimen, deren kollektiver Zorn oftmals so weit ging, dass er bizarre, mitunter unfreiwillig komische Blüten trieb; von in so schlechtem Deutsch verfassten Beiträgen, welche jedem Germanisten einen Nervenzusammenbruch verpasst hätten, über gebetsmühlenartig wiederholte Flüche gegen Israel, bis hin zu Ehrerbietungen an den längst verblichenen Führer, den einige sich zum Vorbild auserkoren hatten (soll da noch jemand behaupten, Migranten würden sich sträuben, einheimische Werte zu übernehmen).
Der Eine schrie(b), er wünsche sich, das Dritte Reich hätte seinerzeit ordentlich mit den Juden aufgeräumt, der Nächste meinte, man müsse aus allen Seife machen, erfundene Hitler-Zitate machten die Runde, so mancher stolze Özkan oder Moussa setzte ihn sich gleich ins Profilbild.Verschwörungstheorien sind en vogue -- der Jude beherrscht die Wall Street, nein, die USA, ach was, die ganze Welt; er säuft das Blut kleiner Kinder, die er von Hunden zerfleischen oder Soldaten zu Tode prügeln lässt. Und der Jude ist reich! Alles gehört ihm, demnach ist alles jüdisch: McDonald's, wo sogar in die Pommes Schwein gemischt wird, um ahnungslose Muslime zu vergiften; Apple, das seine Hardware mit Huf- und Klauenteilen des Schweins anreichert, um ahnungslose Muslime zu kontaminieren, wodurch ihnen Energie entzogen wird; Ferrero, das in sein berühmtes Nutella Schweineblut mischt, Coca-Cola, natürlich, wie könnte man nur darauf vergessen, die amerikanische Billigversion des Cola Turka; und viele, viele, viele andere. Selbstredend fließen alle ihre Einnahmen an Israel, daher muss auch alles Jüdische schonungslos boykottiert werden, denn das Geld wandert schließlich in den "Völkermord gegen die Palästinenser". Auf die Idee, das eigentlich jüdische Facebook zu verlassen, kommt aber niemand. So wie Technologie, Geld und Rechte/Privilegien den Ländern des Ungläubigen dieser Klientel generell zusagen.
Der Jude - er bezahlt Aufrührer und Terroristen, um den Islam und die islamische Welt zu zerstören; Ägypten hat er erledigt, den gesamten Golf unter seiner Kuratel, alle muslimischen Staaten hat Schlomo Sheykelman unterworfen. Alle? Nein, ein tapferes Land, stolzer Erbverwalter der einst unbesiegbaren Osmanen, trotzt ihm wie und je: Die Türkei.
An dieser Stelle vielleicht ein paar Erklärungen als beruhigenden Ausgleich zu dem ganzen Unsinn, der durch das Netz kursiert, von dem ich nur die harmlosesten Beispiele genannt habe.
Ein zentraler Punkt ist die nötige, weil wichtige Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Antizionismus. Viele der wütenden Demonstranten auf diversen Märschen quer über den Kontinent nahmen für sich in Anspruch, explizit keine Antisemiten zu sein - das sei doch ein Unterschied, man habe ja nichts gegen gute Juden (die einem selbst immer brav zustimmen), ganz im Gegenteil; RICHTIGE Juden wären nämlich auch gegen Israel und dessen Politik (gemeint sind orthodoxe Juden, für welche die Existenz eines israelischen Staates auf Erden vor der Wiederkehr des Messias als Sakrileg erscheint). Eines vorweg: Israel kann und muss genauso kritisiert werden wie jedes andere Land auch. Es muss für seine Verstöße gegen das Völkerrecht genauso zur Rechenschaft gezogen werden können wie jedes andere Land auch (nun, es gibt bekanntlich Ausnahmen). Keine Selbstverteidigung, keine Notwehr rechtfertigt das Töten von Frauen und Kindern (sofern natürlich nicht selbst bewaffnet -- im Nahen Osten weiß man leider nie).
Um es kurz zu machen: Antizionismus hat immerhin noch so etwas wie rationale Beweggründe, die dem Antisemitismus logischerweise fehlen. Und genau deswegen läuft Antisemitismus oft verdeckt unter diesem Mantel, denn der Knackpunkt ist die Definition: Wer ist Zionist, wen kann ich hemmungslos beschimpfen, ohne mich dem Verdacht aussetzen zu müssen, automatisch Juden zu hassen? Wie kann ich das Wort "Jude" genau so verpacken, dass ich sie alle hemmungslos beschimpfen kann, um mich gegebenenfalls unter die schützende Tarnkappe des Antizionismus zu flüchten? Des Rätsels Lösung ist denkbar einfach: Zionisten sind nicht mehr nur jene Juden, die hinter Israel stehen, sondern jeder Jude, der mir widerspricht, der nicht in mein Weltbild vom sich erfolgreich unterwerfenden Anderen passt - und schon kann ich ihn beschimpfen. Der "kleine (Migranten-)Mann" von der Straße ist in der Regel entweder unfähig oder unwillens - oft leider beides - zwischen Juden und Zionisten zu unterscheiden, weswegen er seine ohnmächtige Wut an "Juden", "Judenknechten", "jüdisch Versippten" et cetera auslässt - kurioserweise ganz in der historischen Tradition seines (neuen) Heimatlandes.
Zur Verdeutlichung nehme ich ein ganz ähnliches Beispiel der türkischen Politik her; Türken stellen nicht nur den Großteil der Muslime im deutschsprachigen Raum, sondern engagieren sich mehrheitlich leidenschaftlich für Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit -- das jedenfalls, solange sie in der Minderheit sind.
Da gibt es zum einen die Unterscheidung zwischen Kurden und PKK-Mitgliedern. Erstere sind die Guten, letztere terroristische Babymörder. Der brave Kurde verleugnet seine Herkunft, ja am Besten gleich die Existenz seiner Ethnie, lernt brav Türkisch,er spricht Türkisch, er isst, trinkt, denkt, fühlt und atmet Türkisch. Er trägt die Flagge des Türken, dieses vom Blut der vernichteten Armenier, Griechen, Aramäer, Assyrer, Aleviten, Lasen, Tscherkessen (wer weiß, wer deswegen noch alles sterben musste) rot durchtränkte Stück Stoff mit vor Stolz geschwellter Brust vor sich hin, akzeptiert jede Form der Bevormundung und Unterdrückung widerstandslos. Er sieht brav dabei zu, wie derselbe Türke, der ihm im eigenen Land elementare Rechte verweigert, sich in der Diaspora alle nur erhältlichen Freiheiten herausnimmt (wenn sie ihm nicht ohnehin seitens betreffender Staaten nachgeschmissen werden) sieht dabei zu, wie seine "schlimmen" Ethnieangehörigen massenhaft umgebracht, vertrieben und assimiliert werden. Ja, ein guter Kurde existiert streng genommen nicht, er ist voll und ganz im türkischen Organismus aufgegangen. Sie hätten alles Türkische, allen voran die Nation zu lieben und zu dienen - das leuchtete ein, und so sangen Generationen von Kurden brav "ihre" Nationalhymne, spielten den Türken von der Wiege bis zur Bahre, und huldigten Kemal, der postulieren ließ, Türkisch sei der Ursprung aller Sprachen, der Türke erster Mensch auf Erden und zivilisatorischer Vorreiter aller bedeutenden Errungenschaften des Menschen. (Kemals katastrophale Minderheitenpolitik kommt heute Schritt für Schritt wie ein Bumerang auf die Türkei hernieder und fordert ihren Tribut.)
Hier kommt die PKK ins Spiel: diese sind keine Kurden, sondern oft Krypto-Armenier, vom Ausland trainiert, bezahlt (von wem wohl?) und gefördert; sie sollen den friedlichen Einheitsstaat im Auftrag des Westens zerschlagen. Ihnen zugerechnet wird jeder Kurde, der dem türkischen Weltbild widerspricht - der Rest sind schließlich gute Kurden, RICHTIGE Kurden, gegen die hat man ja nichts, und man müsse ja unterscheiden. Dass bereits vor der Entstehung der PKK ein Ethnozid an der kurdischen Bevölkerung im Gange war, wird schön ausgeblendet -- denn was einem im Hause, in Medien oder der Moschee nicht erzählt wird, könne ja nicht stimmen, das wären Lügen und Propaganda. Und wenn es stimmte, so würde man es doch selbst zugeben. Und überhaupt wollen die ja nur die Türkei schlecht machen, aus Eifersucht und Missgunst. Und selbst wenn es stimmt, na und? Sie haben es verdient, sie haben angefangen, sie wollten unser Land spalten, sie waren Terroristen - ja, auf diese Weise kann man natürlich alles rechtfertigen. Auch Völkermorde. Das problematische Verhältnis der Türken zu allen möglichen Gruppen, die wiederum vorzügliche Feindbilder abgeben - von A(levit) bis Z(ypriot) ist für jeden etwas dabei - davon ein anderes Mal mehr, es ließen sich Bände füllen.
Nicht von ungefähr gemahnt diese "Logik" an das Verständnis der US-Südstaaten und ihrer Art, die Rassentrennung zu verteidigen: man habe im Land nur "gute Nigger", das Zusammenleben funktioniere einwandfrei, es gebe weder Diskriminierung noch Probleme, Bürgerrechtler seien "Agitatoren von außen". Agitatoren von außen, ein immer wieder gern gebrauchter Klassiker; ähnlich dem kleinen Schwarzen kommen sie nie aus der Mode.
Worauf will ich hinaus mit meinen bisherigen Erläuterungen?
Dieselben, die mir wochenlang meinen Newsfeed mit in Stücke gerissenen Leichen (bei denen ich gar nicht wissen möchte, wie viele von denen aus anderen Konflikten ausgeliehen waren) garniert haben, dieselben, die schrien, man müsse kein Muslim sein, um sich für Gaza einzusetzen, dieselben, die lautstark fordern und selten kompromissbereit sind, dieselben, die sich vermeintlich gegen Rassismus und Nationalismus einsetzen (dem Ganzen liegt ein Missverständnis zugrunde: Natürlich ist man gegen Rassismus und Nationalismus - nämlich jenem, der sich dem eigenen in den Weg stellt), dieselben, die ungehindert Gesinnungsterror betrieben und sich so weit erniedrigten, weibliche TV-Moderatorinnen aufs Übelste zu beschimpfen, dieselben, die aus verbrecherischen Dritte-Welt-Ländern kommen, hingegen dort großzügig über Tote "der anderen" hinwegsehen (wenn sie nicht offen applaudieren); dieselben also demonstrieren einmal mehr ihre Ignoranz, Doppelmoral und Unglaubwürdigkeit jetzt, wenn oder da sie stumm bleiben im Angesicht des selbsternannten "Islamischen Staates" und seiner Gräueltaten. Der Konfliktimport gen Westen läuft bereits, der Krieg ist längst in Europa angekommen; sich äußernd nicht nur in IS-Merchandise zur Schau stellenden Radikalen, sondern tätlichen Angriffen auf der Straße und Verleumdungskampagnen über soziale Medien.
Die akute Bedrohung, welche vor unser aller Augen über alle hereinbricht, die dem Kalifen und seiner Anhängerschaft zuliebe nicht auf ihre Religion, ihre persönlichen Freiheiten, ihre menschliche Vernunftbegabung verzichten, wird offenbar ignoriert, wo es von unheimlicher Bedeutung wäre, auf breiter Basis zu informieren. Und dabei bleibt es nicht. Unter der Hand gesteht man extremistischen Kämpfern alles zu, was das Herz begehrt: Rekrutierungsmöglichkeiten in Europa, Waffendeals, mediale Präsenz für deren Propaganda über diverse Internetseiten. Statt Menschen, etwa religiösen Minderheiten wie Christen und Yesiden zu helfen, wird weggesehen. Statt den Kurden, der einzigen gegen den Ansturm kämpfenden Nation, die längst überfällige Unabhängigkeit und militärische Hilfe zu gewähren, fürchtet man sich davor, die Türkei zu vergraulen, deren Interessen den kurdischen stets zuwiderlaufen; und welche keinen Hehl aus ihrer Sympathie für antikurdische Jihadisten macht, vortrefflich zu beobachten an der Situation der Kurden im syrischen Teil Kurdistans, zu dem man vorsorglich die Grenzen gesperrt hat (zumindest für Nichtjihadisten).
Wer beschäftigt sich mit den Verbrechen des IS? So weit ich das beurteilen kann, jedenfalls nicht dieselben Menschenrechtler, welche nach wie vor Massen zusammentrommeln, wenn es gegen den Juden geht, wo man seinen Hass und eigene Komplexe wunderbar kollektiv kanalisieren kann. Der Eine findet keine Lehrstelle, der Andere ist in der Schule wieder einmal durchgeflogen, der Nächste hat immense Summen beim Wetten verspielt; wie gut, dass sich für jede Lebenslage ein Sündenbock findet! IS? Kein Thema. "Keine Muslime, die haben nichts mit dem Islam zu tun." wird abgeblockt, Theorien von westlicher (wieder: jüdischer) Drahtzieherschaft machen die Runde. Aber wäre nicht genau dieser offensichtliche Ruin der islamischen Religion bereits ein Grund zum Protest? Stattdessen wird abgewunken - wissend, dass davon weniger der IS betroffen sein wird, sondern dessen Opfer: Schiiten, Kurden, Jesiden, Christen -- alles Gruppen, für die man in weiten Teilen der islamischen Welt ohnehin nicht viel übrig hat. Denn um in diesen Kreisen propagandistischen "Wert" zu haben, müssen Getötete typischerweise folgenden Kategorien entsprechen: muslimisch, besser: Sunnitisch-muslimisch, getötet durch Nichtmuslime. Berber, Belutschen, Kurden, Turkmenen? Schlechte Karten. Ich sage es frei heraus: Wenn da ganze Gruppen zur Vernichtung freigegeben, Männer auf fürchterlichste Art und Weise hingerichtet, Frauen in die (sexuelle) Sklaverei, Kinder zu emotionslosen Tötungsmaschinen umgepolt werden, so ist das Image des Islam mit großem Abstand das letzte, was mich interessiert. (Fast möchte man sogar die Byzantiner dafür verfluchen, ihre Grenzen nach Osten und Süden nicht hinreichend gesichert zu haben.)
Wen kümmern denn schon ein paar tausend Jesiden? Der gewöhnliche Muslim interessiert sich für Minderheitenfragen nicht eher, da er selbst betroffen ist, wo dann Allerweltsphrasen wie "Mensch ist Mensch!", "Vielfalt und Toleranz!" hinausposaunt werden. Wo europäischer Kolonialismus/Imperialismus verflucht, im selben Atemzug islamisch-expansionistische Reiche schamlos glorifiziert, Bildung, Wissenschaft, Forschung, die freien Künste auf jämmerlichstem Niveau dahingrundeln, sofern überhaupt existent. Wo anderen religiösen Gruppen Dinge wie die Kreuzzüge pauschal an den Kopf geworfen werden, während Flecken in der eigenen Geschichte "nichts mit dem Islam zu tun haben". Ich bin müde geworden - müde der unter dem Banner der Toleranz getragenen Doppelmoral, der Menschenverachtung, der Pawlow'schen Reflexe gegen alles, was auch nur ansatzweise nicht ins eigene Weltbild zu passen droht; und ganz besonders müde der Fremdscham für meine Glaubensgenossen. Denn wer sich allen Ernstes Verhältnisse anno 1500 zurückwünscht, wird in unserer immer schnellebigeren Zeit folgerichtig auf der Strecke bleiben.
Es mag diese so weit verbreitete Ignoranz ihren Anteil daran haben, dass der islamische Kulturkreis sich im gegenwärtigen Zustand befindet, aus dem er scheinbar keinen Ausweg kennt - auch wenn (viele) Muslime in Verschwörungstheorien, Zensur, fehlender Diskussionskultur, mangelnder Toleranz oder blanker Gewalt einen solchen zu sehen glauben.