Im letzten post war gezeigt worden, daß, wenn man den Begriff der Menschenwürde mit Hilfe der Verbote von Demütigung und Verletzung der Selbstachtung bestimmt, dann kommt man nicht umhin, einen humanistischen Standpunkt einzunehmen, der zwei Aspekte umfaßt.

Humanismus - das meint im Grunde "Autonomie"

1. theoretischer Humanismus: Menschliche Freiheit ist die Fähigkeit, Gründe einzusehen, selbst abzuwägen und der eigenen Abwägung zufolge auch zu handeln. Freiheit wird damit ausgeübt, insofern Rationalität demonstriert wird dadurch, daß eine eigene Handlungserklärung für das selbst kontrollierte Verhalten gegeben wird. Alle Menschen können gar nicht anders, als sich selbst als Wesen zu verstehen, die ihr Handeln an Gründen ausrichten.

  • Dieses positive Freiheitsverständnis ist nicht alternativlos: Der atheistische Existentialismus z.B. verstand Freiheit als Wahlmöglichkeit und damit als Fähigkeit, sich in seinen Entscheidungen jederzeit von seiner Biographie psychologisch komplett lösen zu können.

2. ethischer Humanismus: Die Ausübung der Autonomie, i.e. die Realisation der Freiheit aus dem theoretischen Humanismus verleiht dem Menschen seine Würde, denn der Mensch ist nicht determiniert und daher nach bestimmten Kriterien moralisch verantwortlich für sein Handeln. Ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung. Und die Gründe des Handelns lassen sich auch nicht naturalisieren, d.h. sie sind in keinem Sinne Ursachen des Handelns. Und wäre das menschliche Handeln durch Anderes als durch Gründe dominiert, dann wäre dieses Andere nicht gegeben, bzw. dessen Bedingungen nicht erfüllt.

Damit wird der Humanismusbegriff primär auf den Freiheits- bzw. den Autonomiebegriff zurückgeführt. Doch Freiheit durch Autonomie und Autonomie durch selbstgesetzte Regeln und Gründe, zu handeln und zu urteilen, zu analysieren, ist noch ein wenig unbestimmt und zieht sofort Fragen nach sich:

  • a) Welche Art von Verantwortung ist mit der Ausübung der eigenen Autonomie verbunden derart, daß wir bestimmte Konsequenzen für oderr gegen uns gelten lassen müssen?
  • b) Ist der Humanismus explizierende Begriff der Autonomie vielleicht ein normativer Begriff?
  • c) Und kann es einen Konflikt geben zwischen Autonomie und Moral?
  • d) Wie muß der Umgang mit Gründen aussehen und welche Verantwortung wird von diesen Gründen umfaßt?

Verfolgen wir jetzt nur die erste Frage unter a) weiter.

Autonomie und Menschenwürde

Menschenwürde ist als Quelle normativer Moral nur dann ohne weiteres einschlägig, wenn die Menschen autonom sind. Sind sie es nicht wie z.B. bei Föten, Säuglingen, geistig Behinderten, Komapatienten oder Berauschten, dann gerät das Moralerbe der Menschheit ins Stolpern und wir haben große Probleme, für solche Fälle gültige moralische Intuitionen zu bilden. Entsprechend gibt es Grenzfälle, wo der Eingriff in höchstpersönliche Bereiche des Lebens so schwerwiegend ist, daß wir an der Autonomie der Entscheidung zweifeln, wenn sie z.B. von der Person selbst kommt wie etwa dem Suizid.

  • Man kann daher menschliches Leben generell mit einem unbedingten Wert in Zusammenhang bringen. Doch wer das tut, der kann später das Abtreibungsrecht nicht mehr zulassen, ohne zu bestreiten, daß Föten Menschen sind.

Auch nicht jeder Eingriff in die Selbstbestimmung ist eine hinreichende Bedingung einer Menschenwürdeverletzung. Denn Fälle persönlichen, aber auch staatlichen Paternalismus wie die gesetzliche Krankenversicherungspflicht halten wir für legitim, während z.B. Folter auch dann als inakzeptabel gilt, wenn wenn durch das Foltern einer Person eine Vielzahl von Menschenleben gerettet werden könnte, denn die Menschenwürde ist nicht verhandelbar.

Solche Beschränkungen der Autonomie, der Selbstbestimmung sind sogar alltäglich: So kann man z.B. niemandem eins auf die Nase geben und dies mit der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit begründen. Jedes Leben in Gemeinschaften bringt daher unvermeidlich solche Beschränkungen mit sich. Selbstbestimmungsseingriffe müssen daher besonders schwerwiegend sein oder höchstpersönliche Bereiche betreffen, damit sie als Menschenwürdeverletzung gelten können. Nicht jede Mißachtung ist auch gleich eine Verletzung der Menschenwürde: Wenn sich z.B. eine Frau alt fühlt und vermißt, daß Männer ihr hinterhergucken oder hinterherpfeifen, so ist das keine Verletzung ihrer Menschenwürde - auch wenn der Feminismus das gerne hätte.

Interessanterweise scheint Menschenwürde auch über das einzelne Individuum hinaus eine Ordnungsfunktion zu haben – wenn sie auch nicht leicht zu bestimmen ist. Denn wir kennen Fälle, in denen unklar ist, ob Menschen zu Objekten gemacht werden und ob wir das betreffende Geschehen lächerlich oder generell entwürdigend finden sollen. Alle diese Fälle sind nach meiner Ansicht strittige Grenzfälle z.B. Leihmutterschaft, Organhandel, Zwergenweitwurf oder Prostitution.

Wenn man nun zugibt, daß an den zuletzt genannten Fällen etwas dran ist, dann beschwört man einen Konflikt zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der Menschenwürde herauf, weil man eine soziale Dimension der Menschenwürde ins Spiel bringt. Die Pointe davon wäre, daß einzelne Personen nicht selbst darüber bestimmen können, was die soziale Bedeutung dieser Praktiken ist. Es ist klar, daß z.B. Feministen die soziale Dimension der Menschenwürde im Grunde ständig benutzen und bis zum Äußersten ausdehnen - natürlich ohne das jemals zu reflektieren oder zu rechtfertigen.

Dennoch: Mehr als zwei knappe Listen, wo Beispiele von klar eingehaltener und klar verletzter Menschenwürde verzeichnet sind, bringen wir auf diese Weise offenbar nicht zu stande: Es fehlt ein etwas schärferes Kriterium für alle o.g. Grenzfälle, das wir jetzt entwickeln werden.

Wie würde es in einer Gesellschaft ohne Menschenwürde aussehen?

In einer solchen Gesellschaft wäre es offenbar anderen Menschen freigestellt, ihre Mitmenschen lediglich als Objekte zu behandeln.

  • (A) Letzteres besagt nicht nur, daß die Rechte und die Autonomie des Menschen ignoriert werden, sondern daß die Menschen wechselseitig einander als Moralsubjekte überhaupt nicht ernst nehmen und zwar nicht nur in Bezug auf die höchstpersönlichen Belange, sondern auch im Hinblick auf die Fähigkeit zur moralischen Rücksichtnahme auf andere, gleichgestellte Moralsubjekte - was sich gleich als entscheidend herausstellen wird.

Denn damit wird offenbar etwas Interessantes über das faktische Funktionieren von Gesellschaften offengelegt:

  • (B) Denn in einer Gesellschaft ohne Menschenwürde würden Menschen zwar z.B. Tiere oder Pflanzen zu schützen, aber nicht einander – was auf die Dauer aber seinerseits zum Wegfall des Schutzes z.B. für Tiere oder Pflanzen führen würde. Die Pointe an der Menschenwürde muß daher sein, diejenigen Moralakteuere zu schützen, die die tragenden Elemente in allen konkret formulierten Moralsystemen einer möglichen Gesellschaft sind, insofern sie Moral durchsetzen und praktizieren. Mit anderen Worten: Der besondere moralische Status, den Menschen haben, ist der, anderen Menschen einen moralischen Status überhaupt erst verleihen zu können.

Das macht es auch – angenehmerweise völlig naturrechts- und metaphysikfrei – nachvollziehbar,

1) warum einerseits Menschenwürde an die Zugehörigkeit zu einer Gattung gekoppelt ist, auf der anderen Seite aber bereits das Demütigungsverbot es erlaubt, den Begriff der Menschenwürde ziemlich weit zu entfalten: Denn einen einzelnen Menschen in seiner Würde zu demütigen, bedeutet, ihn aus der Moralgemeinschaft – temporär oder partiell – auszuschließen.

2) warum wir zögen, nicht-autonomen Personen dieselbe Menschenwürde zuzuschreiben, wie autonomen Personen: Denn nicht-autonome Personen fungieren nicht als tragende Elemente in konkret formulierten Moralsystemen. Sie laufen so mit und profitieren nur von der unter Anstrengung aufrecht erhaltenen Moral.

3) warum nicht alle Eingriffe in die Selbstbestimmung eine Verletzung der Menschenwürde sind: Denn akzeptable Eingriffe in die Selbstbestimmung hängen allein von der konkreten Organisation des sozialen Lebens aller ab. Der intakte Status eines Menschen als tragendes Elemente eines konkret formulierten Moralsystems wird dafür aber immer schon vorausgesetzt.

4) inwiefern es eine soziale Dimension der Menschenwürde gibt, i.e. Handlungen vorkommen, über deren Bedeutung einzelne, autonome Personen nicht entscheiden können. Auch eine minimale Solidarität unter den Menschen ist eine Konsequenz der Menschenwürde.

Daß wir nun diese Phänomene erklären können, ist schon ein gewisser Test für (A) und (B) - eine Position, die übrigens nicht sehr weit entfernt ist von einer kantischen Position: Denn nach Kant beruht unsere Würde allein auf unserer Autonomie. Sie verpflichtet uns aber auch zur Achtung der anderen Menschen in ihrer Autonomie und Würde (I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2.Abschnitt).

in short: Die Würde des Menschen besteht darin, als autonomes Moralsubjekt eine moralische Gemeinschaft mit anderen autonomen Moralsubjekten herzustellen. Wer als Eremit lebt, hat für eine Menschenrechte begründende Menschenwürde keine Verwendung und braucht folglich auch keinen Humanismus.

Menschen leben normalerweise primär mit Menschen in Gemeinschaften. Insoweit sie das auch mit Tieren tun, erstreckt sich die Würde ebenso auf Tiere, denen wir dann ebenso moralische Rechte zuerkennen müssen.

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