„Liebe Kollegin“, sagt der Präsident, „Sie sind seit Jahren meine Vizepräsidentin. Stimmen Sie mir zu, dass Sie in diesem Amt auch eine Vorbildwirkung ausüben?“
„Ohne Zweifel, was veranlasst Sie zu dieser Frage? Wenn Sie mich auf mein Zeitungsinterview ansprechen, ich habe mit keinem Wort etwas zu unserem Prozedere bekanntgegeben. Und es tut mir leid, dass Sie mit Ihrer Meinung zur Wahlaufhebung unterlegen sind.“
„Nein, Frau Kollegin, das ist es nicht. Ich meinte, ob wir als Repräsentanten der Republik nicht auch im Umgang mit unserem Körper vorbildlich sein sollten.“
„Oh, Herr Präsident, ich verstehe. Sie meinen das einzige, was zwischen dem violetten Samtkragen mit weißem Kaninpelz und dem Barett hervorschaut. Ich habe es ein wenig anpassen lassen. Hätte ich Sie dafür vorher fragen sollen?“
Der Präsident reibt seine Hände, dann zieht er am Ohrläppchen, auch die Nase kommt dran. Diese Andeutung hätte er sich sparen können.
Er blickt zur Tür, die anderen Kollegen betreten nacheinander den Saal. Er hat mit ihnen eine Feedbackrunde zum Urteil der Wahlaufhebung vereinbart.
„Wir werden auch in Zukunft heikle Entscheidungen zu treffen haben und wir sollten unsere Beweggründe hinter den juristischen Überlegungen kennenlernen“, eröffnet der Präsident. „Selbstverständlich hat auch dieser Austausch geheim zu bleiben. Also bitte, wer beginnt?“
„Ich gebe zu“, sagt einer, „ich hätte es schlecht ausgehalten, für die Bestellung eines Bundespräsidenten verantwortlich zu sein, der so ganz und gar nicht meinem Weltbild entspricht und schließlich habe ich mich erinnert, von welcher Regierung ich 2002 bestellt worden bin.“
„Für mich ist klar gewesen“, sagte eine jüngere Kollegin, „die Verfehlungen sollten Anlass für unseren klaren Auftrag an die Regierung sein, in Zukunft für rechtlich einwandfreie Abwicklungen bei Wahlen zu sorgen. Für eine Wahlwiederholung gibt es keinen logischen Grund.“
Nacheinander melden sich noch zehn Damen und Herren zu Wort. Die Argumente, warum die juristische Beurteilung zur Wahlwiederholung führen sollten und warum nicht, halten sich die Waage.
„Dann muss ich wohl“, sagt die Vizepräsidentin, „auch ich weiß, warum ich Vizepräsidentin bin. Und haben wir als oberstes juristisches Gremium nicht im besten Sinne des Wortes konservierend, also konservativ zu sein? Zur Untermauerung habe ich mit dem Verantwortlichen aus dem großen, konservativen Klub ein Gespräch geführt. Wir dürfen nicht an der gesetzgebenden Körperschaft vorbeientscheiden. Meine Meinung wird von diesem Herrn geteilt und unterstützt. Wir können uns in Österreich keinen Präsidenten leisten, dessen Familie selbst eine Flüchtlingsgeschichte hat und der für die Hälfte der Bevölkerung unakzeptabel wäre. Wir müssen auch an künftige Wahlen und an mögliche neue Koalitionen denken. Ich kann nicht anders, als für einen zweiten Versuch in der Stichwahl zum Bundespräsiden zu sein.“
Der Präsident schließt die Zusammenkunft:
„Ich danke Ihnen für die Offenheit. Sie kennen meine Meinung, aber ich habe in diesem Verfahren kein Stimmrecht. Sie hätte den Gleichstand nur prolongiert. Ob ich diesem Gremium noch weiter angehören will, werde ich in den nächsten Wochen entscheiden.“