Am 10. Januar 2017 wurde das „Unwort des Jahres“ für 2016 bekannt gegeben. Es entstammt erneut dem Migrations- und Asyldiskurs, lautet „Volksverräter“ und spaltet die Gemüter massiv- ein bestimmtes Lager nickt die Wahl zufrieden ab, das andere hält sie für pure Agitation im Sinne des sogenannten politischen Mainstreams. Ich habe an die Jury, vor allem deren Sprecherin Prof. Dr. Nina Janich, eine Art offenen Brief verfasst.
Sehr geehrte Jury der „sprachkritischen Aktion“ zur Wahl des Unwortes des Jahres, sehr geehrte Prof. Dr. Janich,
erneut haben Sie im Rahmen der „sprachkritischen Aktion“ ein Unwort des Jahres gewählt. Es ist das Unwort des Jahres 2016 und es lautet „Volksverräter“. Ich möchte diesbezüglich gern einige kritische Fragen an Sie richten.
Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, das (mir ebenfalls stark missfallende) Wort selbst zu diskutieren, da der traurige historische Bezugspunkt in diesem Fall unstrittig ist. Gutmensch, das Unwort des Jahres 2015, das ich gelegentlich selbst benutze, bot in meinen Augen mehr Anlass zu einer differenzierten semantischen Analyse. Meiner Ansicht nach- ich bin ebenfalls Linguistin- hatten Sie den Gebrauch dieses Wortes auch komplett missverstanden, was bedauerlich ist, da Ihr Interesse ja der pragmatischen Bedeutung gilt. Das Problem lag wohl darin, dass Sie bereits die lexikalische (also die „eigentliche“) Bedeutung des Wortes falsch einschätzten bzw. außer Acht ließen, die bei der Beurteilung der pragmatischen Bedeutung aber nicht ganz unberücksichtigt bleiben kann. Detaillierter diskutierte ich den Fall Gutmensch vor einem Jahr in einem Posting auf meinem alten Facebook-Profil: https://www.facebook.com/meerschwein.fluesterer/posts/958714600848668
Aber kommen wir zurück zur aktuellen Wahl. Sie bieten in Ihrer Presseerklärung eine Statistik zur Anzahl der Einreichungen an. Überrascht stellte ich fest, dass Volksverräter nur dreimal vorgeschlagen worden war. Interessanterweise wurde das von der Gesellschaft für deutsche Sprache bereits im Dezember 2016 zum WORT des Jahres gekürte postfaktisch am häufigsten als Vorschlag für Ihre Aktion eingereicht. Unter den Top Ten finden sich Ihren eigenen Angaben zufolge auch (rechts)populistisch, Einzelfall, biodeutsch/Biodeutsche oder ganze Phrasen und Sätze wie der wohl berühmteste Ausspruch unserer Bundeskanzlerin Wir schaffen das oder die Armlänge Abstand, die die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker den weiblichen Opfern der vorletzten Kölner Silvesternacht nahelegte.
All diese Einsendungen wurden um ein Mehrfaches häufiger vorgeschlagen als Volksverräter. Nun stellt sich mir die Frage, warum Sie keines dieser Wörter gewählt haben. Warum diese für den Diskurs des vergangenen Jahres äußerst charakteristischen Wörter so sträflich ignoriert wurden, dass sie noch nicht einmal die „Nebenrüge“ erhielten, die normalerweise erfolgt.
Sie selbst bieten einige vage Erklärungen zum Auswahlvorgang an. In einem Interview, welches Sie einen Tag vor der Bekanntgabe des diesjährigen Unwortes (also am 9. Januar) der Hessenschau gegeben haben, meinen Sie, die Mehrheit der vorgeschlagenen Wörter wäre seit einigen Jahren dem Themenfeld „Migration“ zuzuordnen- zumindest die Mehrheit derjenigen Wörter, die tatsächlich „diffamierend“ seien. Also könnten Sie im Prinzip auch nur aus diesem Themenfeld wählen. Mit diesem Hinweis greifen Sie gewissermaßen der Frage vor, warum nach Lügenpresse und Gutmensch nun schon wieder ein Wort aus diesem Teil des gesellschaftspolitischen Diskurses erkoren wurde.
Nun gehören allerdings auch Wörter wie Einzelfall, die Armlänge Abstand und vor allem Wir schaffen das zweifelsfrei zum sog. Migrations- und Asyldiskurs. Und sie scheinen demjenigen Teil der Sprechergemeinschaft, der Ihrem Aufruf zur Einsendung von Vorschlägen Folge leistete, offensichtlich mehr unter den Nägeln zu brennen als der- glücklicherweise- eher marginale Volksverräter.
Aber gut- Der Auflistung der Top Ten der Einreichungen in der Presseerklärung stellen Sie den kurzen, aber deutlich hervorgehobenen Hinweis voran, diese würden „allerdings nicht sämtlich den Kriterien der Jury entsprechen“. Die Kriterien, die ein Unwort erfüllen muss, um ein Unwort zu sein, sind Ihrer Webseite nach Folgende: Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde, Verstoß gegen die Prinzipien der Demokratie, Diskriminierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen und euphemistischer/verschleiernder/irreführender Charakter. Die Sache mit der Menschenwürde ist meiner Meinung nach übrigens extrem dehnbar, da sich in der Theorie jeder wegen allem in seiner Würde verletzt fühlen kann und dies in der Praxis auch in tatsächlich steigendem Umfang geschieht. Aber das führt an dieser Stelle zu weit.
Um nun meine Frage, warum die häufiger eingereichten und ebenfalls zum Themenfeld Migration und Asyl gehörenden Beispiele es nicht zum Unwort geschafft haben, etwas zu konkretisieren:
Sie schreiben, die in der Presseerkklärung angeführten Top Ten der Vorschläge würden, zumindest partiell, nicht den Kriterien der Jury entsprechen. Mich würde interessieren, welche dieser Wörter das betrifft und in welcher Form sie an den Kriterien scheitern. Beim Einzelfall vermag ich mir vorzustellen, dass er nicht unbedingt charakteristisch für das Jahr 2016 ist. Andererseits sind diejenigen Teilnehmer, die ihn vorschlugen, doch sicher Ihrer Aufforderung nachgekommen, Quellennachweise einzureichen, die seine Verwendung auch im letzten Jahr belegen. Ich selbst würde ihn in die Gruppe der Euphemismen und Verschleierer einreihen- eine Verschleierung des tatsächlichen Ausmaßes an Migrantenkriminalität. Ein Grund, warum er mittlerweile auch ironisch genutzt wird. Mit welcher Begründung wurde dieses Wort denn von den Teilnehmern vorgeschlagen? Mit eben der von mir genannten?
Für die Armlänge Abstand spricht meiner Meinung nach sehr viel. Die Phrase selbst ist zwar unproblematisch, eine präzise Trennung der lexikalischen von der pragmatischen Bedeutung scheint mir ebenfalls nicht möglich, zumindest nicht in derselben Weise, wie es der Gutmensch erlaubte. Entscheidend ist hier der Kontext, in dem die Armlänge als Sprechhandlung, nämlich als Empfehlung, daherkommt. Handlungsempfehlungen an (potenzielle) Opfer zu richten, anstatt diesen kompromisslose Solidarität zuzusichern, ist zumindest meiner bescheidenen Meinung nach an Hohn und Empathieverweigerung kaum zu überbieten (Stichwort Menschenwürde!). Soweit ich den Diskurs beobachten und miterleben konnte, empfinden viele Bürger und Diskutanten dergestalt. Und auch hier lautet meine Frage: Woran scheiterte die Armlänge? Sicher sind diejenigen, die diese Phrase als Vorschlag einreichten, nicht sämtlich Linguisten, können also nicht unbedingt mit Fachvokabular wie Sprechhandlung oder lexikalische und pragmatische Bedeutung argumentieren. Dennoch kann ich mir kaum vorstellen, dass sie ihre Wahl nicht hinreichend begründen konnten, zumal der Kontext so spezifisch und bekannt ist, dass Sie, liebe Jury, wissen müssten, wo hier der Schuh drückt.
Ich könnte mich nun noch an Wir schaffen das oder auch Rechtspopulisten abarbeiten, aber das würde den Rahmen wirklich sprengen. Ich möchte stattdessen noch etwas konkreter werden:
Kann es sein, dass Volksverräter, trotz seiner geringen Beachtung durch die Vorschlagenden, deswegen das Rennen machte, weil es ein Unwort ist, das vom „richtigen“ politischen Gegner verwendet wird? Namentlich von „Angehörige[n] und AnhängerInnen von Pegida, AfD oder ähnlichen Initiativen“, wie Sie in der Presseerklärung verlauten lassen? Und weil es, ebenso wie Gutmensch, diejenigen trifft, die zu den Unterstützern und Befürwortern der merkelschen Flüchtlingspolitik gehören? In diesem Fall nicht selten die Bundeskanzlerin selbst? Und finden Sie nicht, dass man angesichts der ähnlich gelagerten Unwörter von 2015 (Gutmensch) und 2014 (Lügenpresse) mit einiger Berechtigung von einer sonderbaren ideologischen Schieflage sprechen könnte, wenn es sich denn so verhält? Gehen Sie davon aus, Angriffe auf die Prinzipien von Demokratie und Menschenwürde könnten/würden grundsätzlich nur aus einer politischen Richtung erfolgen? Ist es Zufall, dass dieser Eindruck mit der expliziten Nennung der Alternative für Deutschland ausgerechnet im Wahljahr entsteht?
Noch gewagter: Gehen Sie bei der Unwortwahl wirklich objektiv vor oder lassen Sie sich womöglich von inneren und äußeren Einflüssen leiten, beispielsweise Ihrer eigenen politischen Orientierung oder einem gewissen sozialen Druck? Ich bitte Sie ernsthaft, dies ehrlich zu reflektieren- Gehen Sie womöglich von einem statischen Modell aus, gemäß dem die Opferposition nur von Migranten und Minderheiten sowie denjenigen, die sich (vermeintlich) für diese engagieren, besetzt werden kann? Ist dies der Grund, warum Sie auf Wörter wie Volksverräter, die zudem NS-Assoziation besitzen, besonders sensibel reagieren, während die Armlänge Sie womöglich nicht einmal annähernd so verstört wie mich? Schließlich waren die Opfer der Kölner Silversternacht von 2015/16 westliche Frauen und die Täter irreguläre muslimische Migranten- eine massive Verletzung oben genannten Modells, die von vielen dem links(bürgerlichen) Lager zuzuordnenden Diskursakteuren nicht oder nur schlecht verarbeitet werden kann und zumeist in Versuchen mündet, die Tätergruppe nachträglich zu viktimisieren und der Opfergruppe eine gesellschaftliche Verantwortung aufzunötigen, anstatt ihr das Recht auf Wut, Empörung, ja vielleicht sogar temporären Hass zuzugestehen. Frau Rekers gut gemeinter Ratschlag an die- von ihren Peinigern umzingelten- Opfer, künftig eine Armlänge Abstand zu Unbekannten zu halten, war ja nur der Auftakt einer beispiellosen Folge an Empathieverweigerung ggü. den Opfern islamischer Hassverbrechen. Es wäre in der Tat ein Unwort gewesen, welches die Unarten des Jahres 2016 wie kein anderes repräsentiert hätte. Nein, einen NS-Bezug besitzt es nicht- aber in Ihren Kriterien ist ja auch keine Rede davon, dass dies unbedingt der Fall sein müsste.
Liebe Jury, mich beschäftigen diese Aspekte auch deshalb so sehr, weil Prof. Janich im bereits angesprochenen Interview in der Hessenschau darauf verweist, dass sie gelegentlich auch mit Schülern über die Unwort-Aktion spricht. Ich gehe davon aus, dass sie dabei einen reflektierten und sensiblen Sprachgebrauch anmahnt. Womöglich mit Erfolg, schließlich wird Professoren ein gewisses Autoritätsprinzip zugestanden. Natürlich spricht auch überhaupt nichts dagegen, die Schüler über die Historie zyklisch wiederkehrender Lexeme wie Volksverräter zu unterrichten. Es wäre nur wünschenswert, wenn auch diejenigen Unwörter und Unarten nicht unberücksichtigt blieben, die exklusiv gegenwartsbezogen sind. Sie haben natürlich den Nachteil, dass sie eine wesentlich komplexere Reflexion erfordern, weil sie nicht einfach mit dem Verweis auf ein besonders dunkles Kapitel der Vergangenheit verworfen werden können. Wer kann und möchte schon widersprechen, wenn es heißt, nehmt doch bitte Abstand von einem Nazi-Wort? Auf solch ein schlagendes Argument kann sich die Armlänge leider nicht verlassen. Hier bedarf es einer anderen Art von Bewusstmachung, möglicherweise sogar eines Umdenkens, um die Unworthaftigkeit zu erfassen. Und mir scheint ferner, als würde es in dieser ganzen Debatte grundsätzlich eines, sagen wie einmal, liberalen oder konservativen Korretivs bedürfen. Ganz besonders, wenn man mit Heranwachsenden spricht, deren Meinungsbildung doch auf einem breiten Spektrum an Input basieren sollte.
Mit freundlichen Grüßen,
M. Nimz