zum 29. Todestag von Thomas Bernhard
Collage von Manfred Breitenberger
Kurz vor dem Taubenmarkt, am Ende der Schaumburger Straße befand sich die Bäckerei Hilger, die für ihre Brezen weit und breit berühmt war. Diese Brezen waren nicht knusprig, sondern eher weich und sie sahen nicht sonderlich appetitlich aus, aber der Geschmack war einzigartig. Mitte der 1970er Jahre war ich ein Dauerkunde dieser Bäckerei. Nach der Schule holte ich mir bei den alten Hilgerschwerstern zwei oder drei Brezen und oft erzählten mir die beiden Geschichten aus Thomas Bernhards Kindheit. Gleich gegenüber der Bäckerei Hilger befindet sich das Poschingerhaus in dem der Schriftsteller von 1937 bis 1946 seine Kindheit verbracht hatte. Wenige Meter vom Poschingerhaus ist die Traunsteiner Stadtkirche entfernt, die Thomas Bernhard in seiner Autobiographie „Ein Kind“ mit verewigt hat. Die Hilgerschwestern erzählten mir von Johannes Freumbichler, dem Großvater Thomas Bernhards, den der junge Thomas täglich am Rande der Stadt in Ettendorf besuchte.
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Von Ettendorf aus hatte man einen weiten Blick auf die bayerischen Voralpenberge, auf den Hochfelln, auf den Hochgern und auf die Kampenwand und unterhalb der Berge liegt der Chiemsee. Traunstein liegt auf einem Moränenhügel, aber Ettendorf liegt noch viel höher, sozusagen vom Berg der Weisheit blickt man auf die Niederungen des Kleinbürgertums hinunter, in welchem, wie der Großvater von Thomas Bernhard zu sagen nicht müde wurde, der Katholizismus sein stumpfsinniges Zepter schwang. Was unterhalb Ettendorf lag war laut Johannes Freumbichler nur die Verachtung wert. Der kleine Geschäftsgeist, der Kleingeist überhaupt, die Gemeinheit und die Dummheit. Blöd wie die Schafe scharen sich die Kleinkrämer um die Kirche und blöken sich tagaus, tagein zu Tode. Nichts sei ekelerregender als die Kleinstadt, und genau die Sorte wie Traunstein sei die abscheulichste. Ein paar Schritte in diese Stadt hinein, und man sei schon beschmutzt, ein paar Worte mit einem ihrer Einwohner gesprochen, und man müsse erbrechen. Scheinbar versöhnlich haben die Traunsteiner nach ihrem „ungeliebten Sohn der Stadt“ einen Weg benannt, die „Thomas Bernhard Stiege“.
Eines Tages kam der achtjährige Thomas auf die Idee seine Tante Fanny im dreißig Kilometer entfernten Salzburg mit dem Steyr-Waffenrad seines Vormundes zu besuchen. Obwohl er noch zu klein war auf dem Sattel zu sitzen wagte er das Unternehmen. Über Surberg, Straß, Teisendorf und Freilassing wollte er nach Salzburg. Nach Teisendorf, das für seine Brauerei berühmt ist, genauer gesagt auf der Höhe von Straß riss die Kette des Steyr-Waffenrades und Thomas Bernhard wurde in eine Wiese katapultiert, konnte aber unverletzt, nun aber zu Fuß und mit Angst vor den mütterlichen Schlägen den Heimweg antreten, erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass er von Tante Fanny weder Adresse noch Nachnamen kannte und sie deshalb auch niemals in Salzburg finden konnte.
Mit dem reparierten Steyr-Waffenrad lieferte Thomas Bernhard später für die Bäckerei Hilger die Brezen meist noch vor der Schule in der ganzen Stadt aus, um sich sein Taschengeld aufzubessern. An einem Nachmittag, so die Hilgerschwestern, bekam er den Auftrag den Ratzingers in Ettendorf zehn Brezen und fünf „Linzer Schnitten“ zu liefern. Ein paar Meter vom Anwesen Johannes Freumbichlers entfernt, lebte seit 1937 die Familie Ratzinger mit ihrem Sohn Josef, der heute besser unter dem Namen Papst Benedikt bekannt ist. Über die Hallerstiege, die sogenannte Schnitzelbaumerstiege, die Gasstraße und Wernleiten war Thomas Bernhard kurz vor seinem präpäpstlichen Ziel, da fielen ihm drei Brezen aus dem Brotbeutel mitten in eine Drecklache, in der zudem sieben Frösche badeten. Thomas Bernhard überlegte kurz, rieb die Brezen ab und dachte sich bei den Ratzingers macht das nichts und lieferte die beschädigten, beziehungsweise durchtränkten Brezen vorschriftsmäßig aus, wie mir die Hilgerschwestern berichteten.
Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt besuchte zu der Zeit in Traunstein das Gymnasium, der Einser-Schüler überragte vor allem im Fach Latein alle seine Mitschüler. Nach seinem Theologiestudium feierte Joseph Ratzinger 1951 seine Primiz in der Traunsteiner Stadtpfarrkirche, die er und der spätere radikale Kirchenkritiker Thomas Bernhard 1937 erstmals gemeinsam betraten. Dasselbe Gymnasium besuchte gut zwanzig Jahre später Paul Breitner, der weitschichtig mit Papst Benedikt verwandt ist, aus dem dreißig Kilometer entfernten Freilassing. Der spätere Spieler des FC Bayern München war ein Fußballrebell und Querdenker, der sich mit der kommunistischen „Peking-Rundschau“ vor einem Mao-Poster ablichten ließ und es als seinen größten Wunsch bezeichnete, dass die Amerikaner den Krieg in Vietnam verlieren. Breitner kreierte die neue Position des Offensiv-Verteidigers. Mit seinen Vorstößen von der Verteidigerposition in Richtung gegnerisches Tor machte der konditionsstarke Freilassinger viele Tore. Die Grundlagen für seine ausgezeichnete physische Verfassung legte sich der Gymnasiast in dem er (trotz Bahnticket) die dreißig Kilometer oft von Freilassing über Teisendorf, Straß und Surberg vorbei an der liegengebliebenen Fahrradkette des Seyr-Waffenrades von Thomas Bernhard nach Traunstein in die Schule lief. Damals spielte Paul noch in der Jugendmannschaft des ESV Freilassing, der berühmten „Breitner-Jugend“, die Breitners Vater trainierte, in die später auch Bernd Dürnberger vom Nachbarverein Kirchanschöring stieß.
Mit Paul Breitner und dem jetzigen Papst Benedikt drückte ich, wenn auch zeitversetzt, dieselbe Schulbank. Nicht nur Paul Breitner und Papst Benedikt gingen in dieselbe Oberschule, auch Andreas Baader besuchte dieses Traunsteiner Gymnasium, wenn auch nur sehr kurz. Anneliese Baader, von ihren Freunden Nina genannt, lebte wenige Kilometer von Traunstein entfernt in der kleinen Marktgemeinde Grassau, sie versuchte vergeblich ihren rebellischen Sohn zum Abitur zu drängen. Er flog meist wegen ungebührlichem Verhalten aus allen möglichen Schulen. Im Sommer 1975, die Bayern hatten gerade mit Bernd (Wipf) Dürnberger zum zweiten Male den Europacup der Landesmeister im Endspiel in Paris gegen Leeds United mit 2:0 gewonnen, war wieder einmal Klaus Croissant zu Besuch in Grassau. Mit Anneliese Baader sollte der Verlauf des Prozesses gegen ihren Sohn besprochen werden. Mit dabei hatte er Suse, die Tochter von Andreas Baader. Wenn Klaus Croissant mit seinem großen schwarzen Citroen DS in dem kleinen oberbayerischen Dorf auftauchte sorgte er stets für großes Aufsehen. Andreas Baader saß zu der Zeit in Stammheim im Hochsicherheitstrakt und hatte oftmals Sonderwünsche, die er durch seinen Anwalt übermitteln ließ. Anneliese Baader, Klaus Croissant und Tochter Suse sollten in Traunstein für Baader ein bestimmtes Transistorradio besorgen. Unten in der Au, schräg gegenüber dem ehemaligen Wohnhaus von Ludwig Thoma, im Elektronikfachgeschäft Wandler wurde das seltene, begehrte Modell gefunden. Bevor sie sich wieder in das Einfamilienhaus von Baaders Mutter nach Grassau begaben, besuchte das Trio noch die Bäckerei Hilger um sich für das Abendessen mit Brotwaren einzudecken.
Es war ungefähr vierzehn Uhr und es herrschte eine Bullenhitze, als ich im Hilgerladen stand, mir meine obligatorischen zwei Brezen kaufte und gerade gehen wollte, da fuhr Klaus Croissant mit Baaders Mutter und Tochter Suse in seinem schwarzen Schlitten durch die Schaumburger Straße und blieb zwischen der Bäckerei Hilger und dem Poschinger-Haus stehen. Die Schaumburger Straße ist so eng, dass kaum ein Fußgänger an dem Wagen vorbeigehen konnte. Mit offenem Mund dachte ich: „Oha, das ist doch Baaders Anwalt, der Klaus Croissant. Kauft der sich jetzt hier vielleicht ein paar knusprige Croissant?“ Doch es kam anders: Klaus Croissant betrat den Laden, während Anneliese Baader mit ihrer Enkeltochter im Citroen blieb. Freundlich wurde Baaders Anwalt von einer der Hilgerschwestern gefragt: „Was darf es denn sein? Die frischen Brezen kommen jeden Moment herein“.
Darauf kam es zu einer bizarren Begebenheit die mich erstarren lies, mit der, soweit ich mich erinnern kann, sinngemäßen Antwort des Anwaltes: „Es fehlt jede rationale und nachvollziehbare Darlegung, wodurch sich diese von sachlich falschen, aber vom Grundrecht der Meinungsfreiheit noch gedeckten Behauptungen und Meinungen unterscheiden sollen, diese Brezen seien frisch. Ausschlaggebend für die Zurückweisung ist jedoch die darin zum Ausdruck kommende Instrumentalisierung von Dichotomien als Mittel der Konfliktförderung zu eigenen Zwecken: Unter Umgehung der Notwendigkeit, frische Brezen definieren zu müssen, um dann die zitierten Äußerungen einer Überprüfung zu entziehen, sie sofort den als politischen Gegner Identifizierten mit dem Epitheton der Unmenschlichkeit bezeichnen zu können.“
Nachdem mich kopfschüttelnd, daneben hilfesuchend die alte Frau Hilger ansah und mich fragte was der „Kaschperl“ denn von ihr eigentlich wolle, sagte ich: „Die visionären Herren dieser Art blendet oft zu vieles Licht, sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht. Vermutlich will dieser Herr nur zehn Brezen haben und es fällt ihm schwer sich mitzuteilen.“
Zuerst veröffentlicht auf Mission Impossible