Die Piazza Mercatello in Neapel während der Pest von 1656, Gemälde von Domenico Gargiulo https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Pest#/media/Datei:Piazza_Mercatello_durante_la_peste_del_1656_-_Spadaro.jpg
In der Stadt Oran kündigen tausende tote Ratten den Ausbruch einer Seuche an. Der Arzt Dr. Bernard Rieux erkennt sofort die Gefahr und setzt gegen anfänglichen Widerstand Quarantänemaßnahmen durch. In einem Disput mit der Verwaltung beharrt der Atheist Rieux: „Die Frage ist nicht, ob die vom Gesetz vorgesehenen Maßnahmen schwerwiegend sind, sondern ob sie nötig sind, um zu verhindern, dass die halbe Stadt getötet wird. Der Rest ist Sache der Verwaltung, und unsere Verfassung sieht einen Präfekten vor, der gerade solche Fragen zu regeln hat.“ „Zweifellos“, sagte der Präfekt, „aber es ist nötig, dass Sie offiziell besttätigen, dass es sich um eine Pestepidemie handelt.“ „Auch wenn wir das nicht bestätigen, laufen wir Gefahr, dass sie die halbe Stadt tötet“, erwiderte Rieux.
Rieux ist der tragische Held, der alles versucht die Seuche einzudämmen, wie sein Freund Tarrou, der eine Schutzgruppe gründet. Ihr großer Gegenspieler ist Paneloux, ein Jesuitenpater mit einem religiös eindimensionalen Weltbild. In seinen Predigten beschwört Paneloux seine Schafe zum Gehorsam gegenüber Gott: „Des Wartens auf euer Kommen müde, hat Gott deshalb die Geißel euch heimsuchen lassen, wie sie alle Städte der Sünde heimgesucht hat, seit die Menschen eine Geschichte haben.“ Oran ist in einem Ausnahmezustand, es wird nach Schuldigen gefahndet wo keine sind und Verschwörungstheorien machen die Runde. Am Ende wird der Feind besiegt und die überlebenden Bewohner können in die Normalität zurückkehren, für wie lange bleibt offen.
Wenige Jahre nach seinem Roman „Die Pest“ bekam 1957 Albert Camus (1913-1960), Vertreter des französischen atheistischen Existenzialismus den Literaturnobelpreis und rund sechzig Jahre später trat ein Corona-Virus vermutlich vom Tier auf den Menschen über. Covid-19 verbreitet sich hauptsächlich durch Tröpfcheninfektion, bei rund 80 Prozent verläuft die Krankheit nur mit Fieber, bei etwa 14 % der Fälle verläuft sie schwerer, und in etwa 5 % so schwer, dass eine intensivstationäre Betreuung notwendig und der Zustand lebensbedrohlich ist. Nach anfänglichen Vertuschungsversuchen kam es in China zu strengen Restriktionen für die Eindämmung des Corona-Virus. Wuhan wurde abgesperrt, Geldscheine und Straßen desinfiziert, Geschäfte geschlossen, Ausgangssperren verhängt, Kontakte verboten und die ohnehin extreme Überwachung der Bevölkerung noch einmal verschärft. Längst hatte sich der Corona-Virus zur Pandemie entwickelt. Keine der bisherigen Pandemien verbreitete sich so schnell um den Globus wie Covid-19. Bei der Spanischen Grippe von 1918/19 infizierten sich zwei von drei Menschen mit dem Virus. In den industrialisierten Ländern lag die Sterblichkeit bei zirka fünf Promille und in ärmeren Ländern bei bis zu zehn Promille. Rund zwei Prozent der damaligen Weltbevölkerung von 1,8 Milliarden Menschen starb an ihr.
Nach wochenlanger Verspätung führten auch die meisten europäischen Länder strikte Ausgangsbeschränkungen wegen Covid-19 ein, mit dem Ziel die Ausbreitungskurve so flach zu halten, dass die Kapazitäten der Intensivstationen nicht umgehend erschöpft werden. Wenige Länder wie die Niederlande oder Großbritannien setzten anfangs noch auf die Herdenimmunität. Durch einen hohen Durchseuchungsgrad in der Bevölkerung soll ein Großteil immun werden. Nach einem Bericht des Imperial College London käme es dabei in Großbritannien auf rund 250,000 Todesopfer, weshalb diese Länder schnell von ihrem Vorhaben abrückten.
Italien ist aktuell das am schlimmsten betroffene Land in Europa. Wegen der völligen Überlastung der dortigen Krankenhäuser behandeln Ärzte nur noch Patienten die eine bessere Überlebenschance haben. Militärfahrzeuge schaffen die Toten in die Krematorien. Weil Beatmungsgeräte und Intensivbetten fehlen, werden die schwereren Fälle zum Sterben in einen anderen Raum gebracht. Man gibt den Sterbenden ihr Handy damit sie sich von den Angehörigen verabschieden können. Ohne entsprechende Maßnahmen der Regierung und von jedem einzelnen wären innerhalb weniger Monate Millionen in Deutschland infiziert und das Krankenhaussystem würde in wenigen Wochen zusammenbrechen. So bleibt zu hoffen dass die aktuelle Ausgangsbeschränkung positive Auswirkungen haben, möglichst bald ein Wirkstoff und ein Impfstoff gefunden und es wieder aufwärts gehen wird.
Sozialdarwinisten, antisemitische Verschwörungstheoretiker, eigenartige Wirtschaftsliberale und sonstige esoterische Verharmloser haben in Seuchenzeiten von Covid-19 wieder Hochkonjunktur:
Der Talkshow-Moderator, Klimaaktivist und Sozialdarwinist Richard David Precht wirft den Leuten vor, „mehr Angst um ihr Leben zu haben als um das Überleben der Menschheit“: „Jetzt kommt etwas vergleichsweise harmloses, etwas was so gefährlich ist wie ’ne Grippe, mit ’ner Mortalitätsrate von 0,3% der Betroffenen und auf einmal ist alles anders. […] Plötzlich ist alles möglich, obwohl es sich um eine sehr kleine Bedrohung handelt. Aber angesichts der ganz großen Menschheits-Bedrohung scheint das alles nicht möglich zu sein. Das weckt den Sinn für das Nachdenken.“ Er selbst trete dem Corona-Virus „völlig unbefangen“ entgegen. „Alles, was ich bis jetzt von dem Virus verstanden habe, ist, dass es gefährlich ist für Leute mit schwachem Immunsystem und für sehr alte Menschen. Und da ich zu beiden nicht dazuzähle, fühle ich mich nicht besonders bedroht…“
Der „Israelkritiker“ und Sozialdarwinist Jakob Augstein twitterte: „Ist angesichts einer Sterblichkeit von zZt vielleicht 4%, die Panik in Sachen #Corona gerechtfertigt? Das ist weniger als bei echter Grippe. Da wäre ich mal für Hinweise auf Quellen dankbar, die das erläutern...“
Bei einem Konzert am 8. März 2020 zum Weltfrauentag begeisterten die linken Rapper von K.I.Z. ihr Publikum mit dem Satz: "Die Wahrheit ist: Davon sterben nur alte, weiße Männer!"
Der prominente iranische Kleriker Alireza Panahian forderte die Iraner auf, das Corona-Virus zu verbreiten, um das Erscheinen des Mahdi, der messianischen Figur im schiitischen Islam, zu beschleunigen. Laut Verfassung des iranischen Gottesstaates gilt, bis zur Wiederkehr des verborgenen Imans, die „Herrschaft des Rechtsgelehrten.“ Der 12. Imam, der Mahdi ist nach der Lehre der Zwölfer-Schia der letzte unmittelbare Nachkomme Mohammeds der im Jahr 874 als kleiner Junge spurlos verschwand. In der iranischen Verfassung ist festgelegt, wenn dieser „Imam“ irgendwann aus seiner Verborgenheit hervortritt wird ihm die Macht ihm Iran unverzüglich übertragen, da er die Welt von allen Übeln, also den Juden befreien wird. Der Kleriker fügte hinzu, dass die Welt vor dem Erscheinen des Mahdi an großen Ängsten, wirtschaftlichen Krisen und vielen Todesfällen leiden werde, sodass die Menschen eine religiöse Regierung unter der Führung des Imam Mahdi benötigen.
Der sunnitische IS forderte dagegen seine Kämpfer auf, Länder zu meiden, die vom Corona-Virus betroffen sind. Der Islamische Staat hat eine Reisewarnung an seine Kämpfer herausgegeben, vom Corona-Virus befallene Länder zu meiden, wie ein Analyst des syrischen Bürgerkriegs ausführte. „Gesunde Menschen sollten davon absehen, in vom Virus befallene Staaten einzureisen, und Infizierte sollten diese Staaten nicht verlassen“, so eine Erklärung, die laut Aymenn Jawad Al-Tamimi von der als IS-Sprachrohr fungierenden Zeitung al-Naba veröffentlicht wurde.
Der Imam der Quba-Moschee in Medina glaubt, dass der aktuelle globale Corona-Virus-Ausbruch die Welt dem Ende der Zeit näher bringt. Scheich Saleh Al-Maghamsi bezog sich in einem Fernsehinterview über die Pandemie auf einen Hadith, eine Erzählung, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird, und in der er von einem „kalten Wind aus dem Jemen spricht, der die Seele der Gläubigen einfängt“. „Früher fragten wir immer, wie der Wind die Seele der Gläubigen einfangen kann, aber jetzt sehen wir, wie sich das Virus ungehindert über die Welt verbreitet hat, um der Menschheit ihre Ohnmacht und Schwäche zu zeigen“, fuhr al-Maghamsi fort.
Ein irakischer Analyst behauptete, hinter dem angeblichen Komplott stecke die jüdische Familie Rothschild mit ihrer "zionistischen Lobby" und der iranische Fernsehsender Press TV halluzinierte dass „zionistische Elemente einen tödlicheren Stamm des Corona-Virus gegen den Iran entwickelt haben“
Bahgat Saber, ein in New York ansässiger Aktivist der ägyptischen Muslimbruderschaft, sagte in einem Video, dass jeder Ägypter, der grippeähnliche Symptome oder das Corona-Virus hat, absichtlich zu ägyptischen Polizeistationen, Staatsanwaltschaften, Gerichtsgebäuden, Botschaften und Konsulaten gehen und Regierungsbeamten die Hand schütteln sollte. So solle Rache an der Regierung von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi, die seiner Meinung nach zutiefst korrupt ist, genommen und das Volk gerächt werden, das von Sisi unterdrückt werde.
Für die russisch-orthodoxe Kirche in Deutschland ist der Corona-Virus die „gerechte Strafe Gottes für Sterbehilfe, Transsexualität, Abtreibungen und Leihmutterschaft“.
In Russland und dem Iran beispielsweise wurden wiederum Gerüchte verbreitet, bei der Epidemie handele es sich um einen US-Angriff mit biologischen Waffen. In den USA hingegen behaupten Verschwörungstheoretiker und esoterische Impfgegner Bill Gates und die Demokraten hätten mit dem Ausbruch zu tun.
Hunderttausende Alte, Schwache und Kranke für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg zu opfern nennt man Sozialdarwinismus und wenn die Krankenhäuser, die Intensivstationen überlastet sind und kollabieren dann sterben auch jüngere Menschen an ihren diversen anderen Krankheiten. Abgesehen davon dass auch immer mehr gesunde Zwanzig- und Dreißigjährige am Virus sterben.Es ist bezeichnend aber keineswegs überraschend, dass ausgerechnet viele sich als irgendwie links gebende Journalisten und Politiker ihren gnadenlosen wirtschaftsliberalen Sozialdarwinismus so offen zur Schau stellen.
Für Albert Camus waren Solidarität, Freundschaft und Liebe die Eckpfeiler des menschlichen Zusammenlebens und so legte er seinem Rieux in den Mund: „Was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“. Für Camus stand die Pest im damaligen historischen Kontext stellvertretend für die nationalsozialistische Besatzung Frankreichs, im Allgemeinen für den Totalitarismus, sein Buch ist ein Plädoyer für die Solidarität der Menschen im Kampf gegen Tod und Tyrannei. Für Camus wie für Sartre kann der Mensch vor allem in Extremsituationen seinen Humanismus beweisen. In der Extremsituation einer Seuche wird auf der anderen Seite die jahrelang geheuchelte Menschlichkeit bei bestimmten Leuten zur Maske die nun endlich fallen gelassen wird. Rieux, der unermüdlich Kämpfer im Roman, der gegen die Niederträchtigkeit und Grausamkeit der Pest rebelliert, zerstört mit seinem Engagement die Hoffnung auf Rettung durch einen barmherzigen Gott als eine Illusion. Vernünftige Maßnahmen des Staates, von Ausgangsbeschränkungen mit dem Ziel der Minimierung von sozialen Kontakten bis hin zu Kurzarbeitergeld und Milliardenschweren Hilfen für Selbstständige und Unternehmen um die Konjunkturkatastrophe abzumildern,sowie massive Investitionen in Forschung und Wissenschaft sind das Gebot der Stunde. Nach der Krise sollte allerdings nochmal über bestimmte Auswüchse der Globalisierung, sowie über das neuerliche Versagen der EU nachgedacht werden.
Oder frei nach Jean Améry: Wird man mich zwingen, Markus Söder hochleben zu lassen? Ich bin bereit dazu.
Gleichzeitig veröffentlicht auf Mission Impossible