Eine Erregung (frei nach Thomas Bernhard)

Manfred Breitenberger

Während alle auf den Germanistikprofessor warteten, der ihnen versprochen hatte, nach der Aufführung seiner Lesung gegen halb zwölf zu ihrem Abendessen in die Hegelgasse zu kommen, beobachtete ich die Eheleute Augensteiner genau von jenem Ohrensessel aus, in welchem ich vor einigen Jahren beinahe täglich gesessen war, und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Augensteiner anzunehmen.

Die Scheußlichkeit seiner Beine habe ich die ganze Zeit beobachtet, die in grobgestrickten grauen Trachtenstutzen steckten, seinen von nichts als von Perversität rhythmisierten Gang, seinen haarlosen Hinterkopf. Er passte sehr gut zu seiner verkommenen Begleiterin, einer verschleierten Religionsfanatikerin wahrscheinlich, ausgemergelten Juristin für Asylrecht, arbeitslosen Forenbloggerin, wie ich damals dachte, dachte ich im Ohrensessel, dass ich mich vor Ekel geschüttelt umdrehte Richtung Bauhofstraße, als die beiden im Abbruchhaus auf dem Hegelplatz verschwunden waren, tatsächlich hatte ich meine Abscheu gegenüber den beiden so weit getrieben, dass ich mich, um zu übergeben, an die Wand vor einem Kaffehaus gedreht hatte; aber da schaute ich in den Kaffehausspiegel und sah direkt in mein eigenes verkommenes Gesicht und es ekelte mich vor mir selbst viel mehr, weil ich die Einladung doch angenommen hatte, als mich vor dem Augensteiner und seiner Begleiterin geekelt hatte und ich drehte mich wieder um und ging, so schnell ich konnte, weiter auf der Bauhofstraße und schließlich in Bommi Baumanns „Kuckucksnest“ um mich in einen Haufen Zeitungen zu stürzen um die Begegnung mit dem Augensteiner und seiner Begleiterin zu vergessen, dachte ich auf dem Ohrensessel.

Einen Fogosch um dreivierteleins Uhr nachts wegen eines Germanistikprofessors, in dessen Barthaaren sich jetzt, da er seine Kartoffelsuppe mit der größten Geschwindigkeit, also wie ausgehungert, halb ausgelöffelt hatte, diese Kartoffelsuppe verfangen hatte. Die Winkelpfeiltaste, sagte er und löffelte die Suppe, die Winkelpfeitaste ist schon jahrzehntelang meine Wunschbeschreibung gewesen, und er sagte, wieder Suppe löffelnd, und zwar alle zwei Wörter einen Löffel Suppe nehmend, also er sagte die Winkelpfeiltaste und löffelte Suppe und sagte war schon und löffelte Suppe und immer meine und löffelte Suppe und sagte Wunschbeschreibung gewesen und löffelte Suppe und er hatte auch noch zwischen zwei Suppenlöffeln seit Jahr- und dann wieder nach zwei Suppenlöffeln zehnten gesagt und das Wort Wunschbeschreibung genauso, als redete er von einer Mehlspeise, denke ich. Mehrere Male sagte er die Winkelpfeiltaste ist meine Wunschbeschreibung, und ich fragte mich sofort, ob er auch dann immer wieder von der Winkelpfeiltaste als seine Wunschbeschreibung gesprochen hätte, wenn er keinerlei Erfolg mit seiner Winkelpfeiltaste gehabt hätte. Hat ein Germanistikprofessor mit einer Beschreibung Erfolg, sagt er, es sei seine Wunschbeschreibung, hat er mit seiner Beschreibung keinen Erfolg, sagt er nicht, dass es seine Wunschbeschreibung ist, dachte ich. Immer wieder löffelte der Germanistikprofessor die Kartoffelsuppe und sagte, die Winkelpfeiltaste sei seine Wunschbeschreibung. Als ob nur er etwas zu sagen hätte, sagten alle anderen lange Zeit nichts, löffelten ihre Suppe und starrten den Germanistikprofessor an. Der Germanistikprofessor hat schon wenigstens zwei oder drei Gläser Champagner getrunken bei seinem Eintritt in die Hegelgassenwohnung dachte ich, als er sagte, eine Beschreibung wird ja erst lebendig wenn ein guter Germanist sie zum Leben erweckt. Darauf legte er beide Hände auf den Tisch und reckte seinen Germanistikprofessorenkopf in die Höhe und sagte zum Augensteiner: Ihre Komposition, lieber Freund, habe ich sehr genossen. Darauf hatten alle geschwiegen und gedacht, der Fogosch werde aufgetragen, aber sie irrten, die Köchin Magda war ohne jede Speise eingetreten und hatte nur gefragt, ob der Fogosch serviert werden könne. Die Augensteiner bedeutete der Köchin Magda, der Fogosch könne nun aufgetragen werden.

Alte Germanistikprofessoren gehen nur mehr noch auf die Nerven, habe ich immer wieder gedacht, und ich habe es immer verhindert, mit ihnen zusammen zu kommen; aber als der Germanistikprofessor, schon mehr getrunken gehabt hat, als ihm im Grunde zuträglich, war er auf einmal interessant geworden durch seine Veränderung, durch ein plötzlich aus ihm zum Vorschein gekommenes, merkwürdig Alt-Philosophisches genau da, wo er angefangen hatte, fortwährend die Wörter Wald, Hochwald und Holzfällen auszusprechen, die, wie ich jetzt weiß, nicht nur seine, sondern vieler solcher Menschen wie der Germanistikprofessor und Millionen Anderer Lebensstichwörter sind. Einfach muss es sein und treffend und ich sage voller Inbrunst nach ein paar Gläsern Wein: „Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen.“ Minutenlanges Schweigen. Der Abend erschien als ein einziger Triumph. Blanker Neid äußert sich aber auch offen, wie bei Angie Billroth, eine Schriftstellerin ohne Talent und ohne Fortune, kanalisiert ihre Verachtung – es ist Berlin, nicht die Welt und nicht nur die Winkelpfeiltaste. „Sie gehören zu diesen Leuten, die nichts wissen und die nichts wert sind und deshalb alles andere hassen, so einfach ist das, Sie hassen alles, weil Sie sich selbst hassen in Ihrer Erbärmlichkeit. Was heute reaktionär erscheint, war damals emanzipatorisch. Wenn ein Naturweib wie ich es bin, eine Königin der Natur, noch dazu klug und schön einem Mann ein Kuckuckskind unterjubeln will, dabei Erlösung von all dem Minderwertigen wünscht und eine Fehlzucht die Menschheit verhindert, dann soll gefälligst der Staat, wenn er wie ich eine Hochzucht anstrebt, dafür aufkommen“, echauffierte sich die Angie Billroth mit ihrer unangenehmen piepsigen Stimme. Darauf, sekundenlange Stille. „Das Schweigen danach ist fast genauso laut wie der Applaus auf der Bühne, als ich sie las meine „Herleitung des Wortes „Zucht“ von Aischylos“, meinte ohne dass jemand den Zusammenhang verstand, der Germanistikprofessor. Ich aber bin noch nüchtern und kann kontern, spreche von Disqualifizierung, wie so manch einer gern gekontert hätte, auch wenn viele der Angie Billroth Recht geben und meinen Einwand empört zurückweisen. Die eingeladenen kleinstbürgerlichen Ingenieure aus Schleswig-Holstein, an Naivität kaum zu übertreffen umarmten die Billroth und dankten ihr für die wichtigen Gedanken. „Vielleicht sind sie auch nur sauer, dass sie so lange auf die Kartoffelsuppe warten mussten“, murmelte der Germanistikprofessor erklärend hinzu.

Die Töpferin Ann-Katherine, sie saß neben der Angie Billroth, verkörpert heute, wie auch die Billroth diese Art von epigonaler scheinintellektuellem Geschwätzigkeitsgefasel, was mir immer verhasst gewesen ist. Die Töpferin meinte eine Einführung der Scharia wäre doch auch bei uns überlegenswert, vor allem sei es doch furchtbar schrecklich, dass diese interessanten, scharia-konformen Finanzprodukte so gut wie nirgends zu ordern sind. Ganz richtig meinte die Augensteiner, diese Ziegenficker sind unser Unglück und keiner tut was dagegen. Der Augensteiner pflichtete seiner Frau bei und zitierte eine gemeinsame langjährige Freundin: “Der jüdische Staat weist immer wieder auf die Einmaligkeit des Holocaust hin, um jegliche Israel-Kritik im Keim zu ersticken. Aber was heißt schon Einmaligkeit, wenn ein jüdischer Staat die ethnische Säuberung der Palästinenser betreibt? Im Namen des Holocaust sollten wir eine Lehre daraus ziehen und uns gegen diesen Blockade-Siedlungs-Krieg und die Ausrottungspolitik des jüdischen Apartheid-Staates stellen.“ Nach sekundenlanger Stille meinte der Augensteiner: „Antisemitismus kann ich in dieser Passage nicht erkennen!“

Den Augensteiner, den ich allen Ernstes einmal als einen Novalis der Fernsehsuppenküche bezeichnet habe, wie ich jetzt mit Abscheu vor mir selbst denke, war längst unzurechnungsfähig gewesen und lallte von Zeit zu Zeit nur mehr noch unverständliches, nachdem er, wahrscheinlich um ein letztes Mal die Aufmerksamkeit der Gesellschaft im Musikzimmer auf sich zu ziehen, urplötzlich sein Unterkiefergebiss aus dem Mund genommen und dem Germanistikprofessor wie eine Trophäe vor das Gesicht gehalten hat mit der Bemerkung, das Leben sei kurz, der Mensch hinfällig, der Tod nicht mehr weit, was den Germanistikprofessor mehrere Male das Wort geschmacklos hatte sagen lassen, während der Augensteiner sein Gebiss wieder in seinen Mund zurücksteckte, die Augensteiner aber naturgemäß wieder einmal in ihrem Sessel aufspringen hatte lassen, in der Absicht, ihren Mann aus dem Musikzimmer in das Schlafzimmer zu befördern, was ihr aber wieder nicht gelungen war; der Augensteiner drohte seiner Christine mit dem Umbringen, schrie etwas von Gesocksforum und stieß sie weg, so dass sie gegen den Germanistikprofessor stolperte, der sie aber aufgefangen und in seine Arme genommen hat. Ach wie geschmacklos! Hatte der Augensteiner selbst ein paarmal ausgerufen und war dann in seiner Bauernlodenjoppe eingenickt.

Wie der Germanistikprofessor dann bei der Verabschiedung auch noch der Angie Billroth ein Kompliment gemacht hat, ein völlig überflüssiges, unsinniges Kompliment, ein unverschämtes, indem er ihr, während er ihr die Hand küsste, gesagt hat, dass ihm ihr geistiger Wagemut gefalle, tatsächlich er hat gesagt, Ihr geistiger Wagemut gefällt mir, war er wieder der widerliche Mensch und widerliche Germanistikprofessor geworden. Das Widerwärtige war hier schon immer widerwärtiger, das Abgeschmackte schon immer abgeschmackter und das Lächerliche schon immer lächerlicher. Ich habe zur Augensteiner gesagt, dass ich froh bin darüber, die Verbindung zu ihnen, den Eheleuten Augensteiner, wieder aufgenommen zu haben, nach diesen Jahren wieder bei ihnen in der Hegelgasse gewesen zu sein und ich hatte, während ich das zu ihr gesagt habe, gedacht, was für ein gemeiner, verlogener Mensch ich bin, der tatsächlich vor nichts, aber auch schon vor gar nichts, nicht vor der gemeinsten Lüge, zurückschreckt. Dass mir der Germanistikprofessor gefallen habe, dass mir die Angie Billroth gefallen habe, selbst dass mir die Töpferin gefallen hätte, sagte ich zur Augensteiner im Vorhaus oben stehend, während die anderen Gäste die Treppe hinunter gingen, ich sie also als abstoßend empfunden habe, während sie die Treppe hinunter gingen, während ich gleichzeitig zur Augensteiner gesagt habe, sie hätten mir alle sehr gut gefallen. Am meisten aber hielt ich mir doch jetzt vor, der Augensteiner einen Kuss auf die Stirn gegeben zu haben, nach dieser Zeit, in welcher ich nichts weniger gehasst habe als die Augensteiner, mit dem gleichen Hass, mit dem ich in diesen Jahren auch ihren Mann gehasst habe und dass ich ihr auch noch vorgelogen habe, ihr sogenanntes künstlerisches Abendessen sei mir ein Vergnügen gewesen, wo es mir doch nichts weniger als abstoßend gewesen war. Nachdem ich die Treppe hinuntergeeilt war, ich nahm zwei, drei Stufen auf einmal, fühlte ich mich um Jahre jünger, weil ich diesem ekelhaften Betrieb endlich entkommen war. Wie hasste ich doch die Augensteiner und ihre gemeine, niederträchtige, antisemitische, sozialdarwinistische Gesellschaft. Nachdem ich diesem fürchterlichen sogenannten künstlerischen Essen entkommen war, lief ich durch die Stadt und dachte, dass ich über dieses Essen etwas schreiben werde, über die Hegelgasse schreiben, egal was, nur gleich und sofort über dieses künstlerische Abendessen in der Hegelgasse schreiben, sofort, dachte ich, gleich immer wieder, durch die innere Stadt laufend, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.

zuerst veröffentlicht bei Mission Impossible

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