Für jemanden, der nicht an religiöse Aussagen glaubt, stellen sich unter anderem folgende Fragen: Warum bestehen seit hunderten von Jahren Vorurteile gegenüber Juden? Warum ist Israel der „Sündenbock“, dem man die meisten Fehler und damit die Verantwortlichkeit für den Nahostkonflikt zuschiebt? Warum gibt es in der Beurteilung zwischen Israel und seinen Nachbarn keine Äquivalenz? Warum wird, auch von vielen Linken, von einer demokratisch gewählten Regierung Israels verlangt, dass sie beispielsweise einen nicht provozierten Raketenkrieg gegen die eigene Zivilbevölkerung hinnehmen soll? Warum gehört der Antizionismus innerhalb der Linken wie das Kreuz zur Kirche? Vielleicht ist die Wurzel, zumindest für die Israelgegnerschaft, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in den osteuropäischen Ländern zu suchen.

Die stalinistischen „Säuberungen“ und Schauprozesse in den 1930er Jahren besaßen bereits antisemitische Züge. Der traditionelle russische Antisemitismus wurde von Stalin für seine innenpolitische Machtpolitik funktionalisiert. Den Auftakt für die antijüdische „Säuberungen“ nach dem 2. Weltkrieg bildete die Ermordung des großen jüdischen Schauspielers Shlomo Michoels durch Stalins Geheimpolizei im Januar 1948. Michoels war Vorsitzender des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK). Im November 1949 wurde das JAFK verboten. Am 12.8.1952 wurde auf Befehl Stalins die Elite der jiddischen sowjetischen Schriftsteller, darunter die weltberühmten Dichter Perez Markisch, ltzik Fejfer und David Bergelson hingerichtet. Laut Arno Lustiger ein einzigartig schrecklicher Vorgang in der Weltliteratur. Einen vorläufigen Höhepunkt der antisemitischen Hasskampagne markierte das sogenannte „Ärztekomplott“ von Anfang 1953.

Am 13. Januar 1953 wurden die angesehensten sowjetischen Ärzte, fast alle waren Juden, angeklagt Mordpläne gegen Stalin geschmiedet zu haben und sich mit „zionistischen Spionen“ verbündet zu haben. Sowjetische Juden wurden entlassen, verhaftet oder hingerichtet. Ein landesweites Pogrom gegen die Juden und die geplanten Massendeportation der russischen Juden nach Sibirien verhinderte einzig und allein der Tod Stalins.

1948 unterstützte die Sowjetunion die Gründung des Staates Israel. Ein Grund für diesen Kurswechsel war auch die damit verbundene Schwächung von Großbritannien in der Region. Angesichts des militärischen Angriffs 1948 der umliegenden arabischen Staaten, war für Israel die einzige Quelle für Waffenlieferungen die im Einflussbereich der Sowjetunion stehende Tschechoslowakei. Die CSSR lieferte unter dem KP Generalsekretär Slánský auf russischen Wunsch Waffen und Munition für Israel. Wegen dieser Waffengeschäfte und eines angeblichen Putschversuches wurde der jüdische Teil der tschechoslowakischen KP-Führung vier Jahre später der prozionistischen Agententätigkeit angeklagt. Wie in der Sowjetunion unter Stalin wurde ab 1950 in der CSSR der Antisemitismus als Kampf gegen „Kosmopoliten“ und als Kampf gegen den „Zionismus“ verkleidet.

Rudolf Slánský (Mitte) vor Gericht (1952)

From Maariv newspaper - כותרת ראשית, מעריב, ארבעים שנה https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Sl%C3%A1nsk%C3%BD#/media/File:Prague_trials.jpg

Am 23. November 1951 wurden Rudolf Slánský und seine überwiegend jüdischen Mitangeklagten des Hochverrats, ganz im Sinne des alten Verschwörungsmythos angeklagt. Die moskauhörige tschechische Presse berichtete unentwegt, dass Slánský eigentlich Rudolf Salzmann hieß, und dass er wie zehn der übrigen Angeklagten jüdischer Abstammung war. In den Akten standen neben den Namen der Angeklagten die Worte „jüdischer Abstammung.“ Wenn Namen nicht jüdisch klangen wurden in den Akten und im Urteil die ursprünglichen Namen angeführt, also „Slánský, alias Salzmann“, „Ludvik Frejka, alias Ludwig Freund“, „Andre Simone, alias Otto Katz“ usw. Major Smolá, ein berüchtigter Antisemit und Bewunderer Hitlers war der Chefankläger im Schauprozess gegen Slánský. Der ehemalige stellvertretende tschechoslowakische Außenminister, damals selbst jüdischer Mitangeklagter, Arthur London, schreibt in seinem Buch: „Ich gestehe“ über die Methoden des Staatsanwalts Smolá: „Er packte mich an der Gurgel und brüllte: Sie und Ihre dreckige Rasse, wir werden sie schon noch ausrotten. Nicht alles, was Hitler getan hat, war richtig, aber er hat die Juden vernichtet, und das war gut! Es sind noch viel zu viele von euch der Gaskammer entkommen.“ Rudolf Slánský wurde am 3. Dezember 1952 zusammen mit zehn weiteren fast ausschließlich jüdischen Mitangeklagten zum Tod verurteilt und durch Erhängen hingerichtet.

Ab 1950 brach die antijüdische Hysterie auch in der DDR aus. Im „Neuen Deutschland“ wird am 30. November 1952 vom großen Prozess gegen den Juden Rudolf Slánský und 13 jüdischen Mitangeklagten berichtet. Geständnisse und Urteile wurden seitenlag dokumentiert. Am zweiten Verhandlungstag gestand, laut „ND“, der Angeklagte Bedrich Geminder, dass er dem deutschen Trotzkisten Paul Bender Spionagematerial geliefert habe. Paul Merker habe im Dienste des Imperialismus und Zionismus Propaganda betrieben. Im Leitartikel stand: „Die Vernichtung der Slánský-Bande – ein Sieg der Friedenskräfte.“ Im Zuge des Slánský Prozesses lehnte die SED jegliche Wiedergutmachung an Israel mit der Begründung ab, diese würde allein „israelischen Großkapitalisten“ und „zionistischen“ Monopolkapitalisten zu Gute kommen. Der Historiker Thomas Haury schreibt in seinem Buch „Antisemitismus von links“: „Nach den Berichten über den Slánský-Prozess und der Veröffentlichung der ‚Lehren‘ trugen weitere Artikel im Neuen Deutschland zur Schaffung eines antisemitisch-antizionistischen Klimas bei: Die ‚Lehren‘ wurden kommentiert, die ‚Entlarvung‘ der ‚Ärzteverschwörung‘ im Kreml wurde bekanntgegeben und es wurde über zionistische Agenten in Jüdischen Gemeinden und der VVN berichtet; Artikel mit Überschriften: ‚Den Zionismus entschieden bekämpfen!‘ erklärten den Staat Israel zur ‚zionistischen Agentur des amerikanischen Imperialismus.‘“

Der „Nichtjude“ Paul Merker, wurde als Zionist aus seinen Ämtern entlassen und er sollte der „deutsche Slánský“ werden. Merker hatte zwar keinen jüdischen Hintergrund, er setzte sich aber bereits in seinem mexikanischen Exil für eine Entschädigung der von den Nationalsozialisten enteigneten jüdischen Vermögen ein und er unterstützte die Gründung eines jüdischen Nationalstaates. 1952 befahl die Sowjetunion der DDR alle Juden zu registrieren. Durch die Säuberungswelle verlor die DDR mehr als die Hälfte ihrer staatstreuen jüdischen Bürger. Zugleich wurde tausenden von ehemaligen Nazis und Wehrmachtsoffizieren per Gesetz im Oktober 1952 ihre volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung in der DDR garantiert, wodurch sie im Staatsdienst eingesetzt werden konnten. Neben Paul Merker wurden viele weitere „jüdische“ Genossen verhaftet, wie beispielsweise Leo Bauer, Chefredakteur des Deutschlandsenders, Bruno Goldhammer, Intendant des Berliner Rundfunks, Staatssekretär Paul Baender, der erste Vorsitzende der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ Jürgen Kuczynsky der Generalsekretär des DDR Kulturbundes Alexander Abusch, Gerhard Eisler und viele andere Kommunisten jüdischer Abstammung wurden aus ihren Funktionen entlassen. Am 4. Januar 1953 schrieb das ND: „Unter jüdisch-nationalistischer Flagge segelnd, getarnt als zionistische Organisation und als Diplomaten der amerikanischen Vasallenregierung Israels, verrichten diese amerikanischen Agenten ihr Handwerk.“

Auch später, in der Breshnew-Zeit kam es zu einer ungeheuren Verschärfung des Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus. Von 1967 bis 1980 erschien allein in der sowjetischen Presse 1700 antizionistische Karikaturen, deren Stil von den „Stürmer“ Karikaturen inspiriert gewesen zu sein scheint (vgl. Arno Lustiger Rotbuch: Stalin und die Juden, Aufbau Verlag 1998). Thomas Haury schreibt in „Antisemitismus von links – Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der früheren DDR“: „Der nationalistische Wunsch nach einem ‚guten deutschen Volk‘ zeigt sich gerade auch in den Versuchen eine Verkehrung von Täter und Opfer, in denen deutsche Kommunisten eine jüdische Mitschuld am Faschismus behaupteten und zugleich das ‚deutsche Volk‘ als Opfer zeichneten – in der Vergangenheit als Opfer des Hitlerregimes und in der Gegenwart als Opfer ‚jüdischer‘ Geldforderungen sowie ‚imperialistischzionistischer‘ Unterwanderung. Durch das spezifisch ‚deutsche‘ Thema Wiedergutmachung sowie der Täter-Opfer Verkehrung zur Entlastung des ‚deutschen Volkes‘ erweist sich der Antizionismus in der DDR als ein von deutschem Nationalismus und seinen Begründungsschwierigkeiten nach 1945 gespeister und geprägter, antizionistisch verkleideter ‚sekundärer Antisemitismus.‘

Seit 1949 lebte Bert Brecht in der DDR. Viele seiner Freundinnen und Freunde, wie beispielsweise Therese Giehse, Helene Weigel, Hanns Eisler, Carola Neher waren jüdischer Herkunft. Bertolt Brecht war bestürzt über die antisemitischen Morde und Verfolgungen in „seinem“ sozialistischen System. Die jüdische Schauspielerin Carola Neher, die er 1922 in München kennen lernte, ging mit ihrem Mann, dem deutschen Kommunisten Anatol Becker, 1932 in die Sowjetunion. Becker wird während der Stalin`schen Säuberungen 1937 hingerichtet, Neher als angebliche trotzkistische Spionin zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Brecht setzte sich erfolglos für Neher ein. Der ebenfalls emigrierte deutsche Schauspieler Hermann Greid berichtet, die Nachricht von der Verurteilung Nehers habe bei Brecht einen Wutausbruch über den „schändlichen und schamlosen Henkersknecht Stalin“ ausgelöst. Neher stirbt 1942 in einem Straflager an Typhus. Brecht versucht zuletzt 1952 über die Ost-Berliner Sowjetbotschaft Auskunft über das Schicksal Nehers zu erhalten. Bertolt Brecht verarbeitet in den „Buckower Elegien“ den 17. Juni 1953 und die damit verbundenen stalinistischen „Fehlentwicklungen“ im sozialistischen System. In seinem Brief an Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 schreibt Brecht: „In der Provinz wurde ‚befreit‘. Aber als die Gefängnisse gestürmt wurden, kamen merkwürdige Gefangene aus diesen ‚Bastillen‘, in Halle die ehemalige Kommandeuse des Ravensbrücker Konzentrationslagers, Erna Dorn. Sie hielt anfeuernde Reden auf dem Marktplatz. An manchen Orten gab es Überfälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt.“

Die SED präsentierte sich zu der Zeit als „Vortrupp des deutschen Volkes“ im nationalen Befreiungskampf gegen „imperialistische Okkupation“ und gegen die „Dollarzinsknechtschaft.“ Der „amerikanischen Unkultur“ setzte die SED die „deutsche Kultur“ entgegen und die „volksverbundene Kunst“ stand im Klassenkampf der SED über dem „wurzellosen Kosmopolitismus.“ Antisemitismus, Antiimperialismus und kommunistischem Nationalismus waren der Hauptbestandteil der Anti-Kosmopolitismus-Kampagnen dieser Zeit. Für den kommunistischen Nationalismus der SED waren die Juden der perfekte Feind, denn alle Juden galten des Zionismus verdächtig. Die DDR-Führung halluzinierte eine jüdische Mitschuld am Faschismus und das „deutsche Volk“ wurde als Opfer gezeichnet. Die Schuld und die Täterschaft der deutschen Bevölkerung an den Verbrechen Nazideutschlands wurden demgemäß in der DDR der 1950er Jahre so gut wie nicht thematisiert. Der spätstalinistische DDR-Antizionismus war daher eine eindeutige Form des „Antisemitismus nach Auschwitz.“

Die grundsätzliche und meist kritiklose Übernahme des damaligen sowjetischen Antizionismus lebt fraglos noch heute innerhalb gewisser Teile der Linken weiter. Auch die Spaltungen der Linken in Trotzkisten, orthodoxe Kommunisten, Antiimperialisten, Stalinisten, „Querfrontler“, Friedensforscher, Maoisten, Anhänger von nationalen Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ und linksradikalen Terroristen, haben keine Änderung dieser „antizionistischen Konstante" bewirkt, was folgende zwei Beispiele untermauern:

Am 27. Juni 1976 entführten die linksradikalen deutschen Antiimperiaisten Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann mit zwei palästinensischen Kämpfern, der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, ein Flugzeug der Air France über Athen mit 250 Passagieren an Bord nach Entebbe. In Entebbe selektierten Böse und Kuhlmann Juden von Nichtjuden. Die verbliebenen 143 nichtjüdischen Geiseln und die französische Crew wurden freigelassen. Die 103 jüdischen Geiseln, 83 Israelis sowie 20 französische Juden, wurden in dem mit Sprengsätzen gesicherten Terminal von Entebbe, mit der Drohung in drei Tagen erschossen zu werden, weiter gefangen gehalten. Befreit wurden die Geiseln in Uganda durch die israelische Armee mit der „Operation Thunderbolt." Nicht die deutsche Selektion von Juden, dreißig Jahre nach Auschwitz, machte große Teile der deutschen Linken fassungslos, sondern die israelische Verletzung der ugandischen Souveränität.

Im Jahre 2010 beteiligten sich die Linksparteimitglieder Annette Groth, Inge Höger und Norman Paech an der israelfeindlichen „Hilfsaktion“ an Bord der “Mavi Marmara, die von der radikal-islamistischen Organisation IHH organisiert und finanziert wurde. Beim Ablegen in Istanbul skandierten die Passagiere des „Friedensschiffes“ Parolen der Hamas, Loblieder auf das islamische Märtyrertum und „Tod allen Juden“. Von den gewalttätigen Ereignissen, als die israelische Armee die „Mavi Marmara“ stoppte, bekamen Annette Groth und Inge Höger nichts mit, da die beiden mit den übrigen Frauen im „Frauendeck“ eingeschlossen waren. Groth und Höger, die sich für die Emanzipation der Frau in Europa einsetzen akzeptierten brav und devot die Geschlechter-Separation der Islamisten.

Mit dem Zionismus und der Gründung des Staates Israel erhielten Juden erstmals einen sicheren Rückzugsort und die Möglichkeit sich zu verteidigen. Der Antizionismus negiert dieses Recht und zielt faktisch auf die Vernichtung des Judenstaates. Der heutige Antizionismus ging in vor allem aus dem kommunistischen Herrschaftssystem mit seinem Nationalismus und seiner Feindkonstruktion hervor. Der Antizionismus, also der Antisemitismus von links, kann letztendlich nur aus den eigenen Reihen effektiv kritisiert und bekämpft werden.

„Ich sehe in Entebbe das Wesen des Zionismus“, sagt Muki Betzer, einer der Kommandeure der „Operation Thunderbolt“. „Hätten wir vor dem Zweiten Weltkrieg einen Staat und eine Armee gehabt, hätte es den Holocaust in Deutschland so nicht gegeben.“

Erstveröffentlicht im Jahr 2012 in Mission Impossible

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