Das Gesundheits-Diktat

Rauch nicht! Halt dich fit! Werde schlank! Kontrolliere deinen Blutdruck! Werde schön! Achte auf dein Cholesterin! Bleib jung! Betreib Vorsorge! Diese Liste von Geboten lässt sich in unserer Gesellschaft, die zunehmend von der Medizin und ihren verwandten Bereichen geprägt ist, beliebig fortsetzen. Einerseits fast schon diktatorisch verordnet, andererseits vom Einzelnen auch durchaus gewünscht, ist die Durchdringung des Lebens mit Medizin und der daraus entstehende Anspruch, dauerhafte, womöglich garantier- und beweisbare Gesundheit herzustellen, heute zu einer lebensbeherrschenden Maxime geworden.

Die Erhaltung der Gesundheit bzw. deren Wiedererlangung wird auf diese Weise zu einem quasi sinnstiftenden Diktat der Postmoderne erhoben: Nur wer gesund ist, kann und darf auch glücklich werden. Und nur wer gesund ist, gehört wirklich dazu. Wer - wie z.B. die Pflegebedürftigen – endgültig nicht mehr mitkann, wird in eigens dafür geschaffene Institutionen verfrachtet und aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt. Heerscharen von Ärzten, Therapeuten und sonstigen Gesundheitsvermittlern wie Wellness-Anbieter usw. bevölkern die verschiedenen Lebensbereiche und bieten dort ihre Dienste an. Oft genug drängen sie diese dem Einzelnen förmlich schon auf. Ein normales Leben ohne (para-)medizinische Beeinflussung scheint heute kaum mehr möglich, die Medizin und ihre Verwandten sind überall.

Das Gesundheits-Diktat muss natürlich seine Allgegenwart auch rechtfertigen und immer wieder aufs Neue begründen: Laufend werden daher neue Vorsorge-, Diagnose- und Therapiemethoden entwickelt, die ein gesünderes und längeres Leben versprechen, oft genug ohne wissenschaftlich ausreichende Grundlage. Ständig werden daher auch neue Krankheiten „entdeckt“, die es zu bekämpfen gilt. Schüchternheit heißt heute Sozialphobie und kann medikamentös behandelt werden, lebhafte Kinder leiden am Hyperaktivitäts-Syndrom und sollen daher therapiert werden – um nur zwei Beispiele unter Dutzenden neuen „Erkrankungen“ zu nennen.

Für jede körperliche oder psychische Abweichung von den oft willkürlich erstellten Normen existieren Diagnose- und Therapiemöglichkeiten. Sogar harmlose Befindlichkeitsstörungen sind heute ein Fall für die Medizin. Nichts ist mehr vor dem Gesundheits-Diktat sicher. Durch dieses Phänomen steigen aber auch die Zahlen von Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten, der Zwang zur Gesundheit erzeugt nämlich paradoxerweise ständig mehr Patienten. Anders gesagt: Die Gesellschaft soll und will immer gesünder werden, wird aber durch ebendiesen Anspruch immer kränker. Gerade durch die permanente Betonung der Wichtigkeit von Gesundheit und angesichts der Notwendigkeit, diese zur Schau stellen zu müssen, wird der an sich natürliche Wunsch, die Gesundheit zu erhalten, zu etwas zunehmend Krankhaftem weil Zwanghaftem.

Welcher Mensch darf sich a priori noch gesund fühlen, wenn er ununterbrochen seine Gesundheit durch diverse Maßnahmen erst bewerkstelligen und beweisen muss? Wer kann sich guten Gewissens noch als gesund bezeichnen, wenn ihm von Gesellschaft und Medizin vorgegeben wird, was er zu tun hat, um solches überhaupt zu dürfen?

Man will nicht nur gesund sein, immer mehr muss man es auch. Wer etwa seine Cholesterinwerte nicht kennt, ist schon ein Außenseiter, auch wenn er sich noch so gut fühlt. Viele Prominente legen bereits routinemäßig ihre Laborbefunde vor, um ihre Gesundheit zu dokumentieren. Firmen verlangen Gesundheitsatteste ihrer Mitarbeiter und Krankenversicherungen empfehlen ihren Kunden, verschiedene Vorsorge-Untersuchungen durchführen zu lassen. Der offizielle Beweis der persönlichen Gesundheit wird solcherart zum alltäglichen Standard.

Sich gesund zu fühlen, reicht längst nicht mehr aus, denn das Gesundheits-Diktat zwingt seinen Opfern die Offenbarung ab. Die Gesundheitsindustrie und die Gesundheitssysteme sind die Apparate, die dem Phänomen „Gesundheits-Diktat“ als Instrumente dienen. Die Akteure in diesen Apparaten vermitteln und verkaufen Gesundheit und nirgends trifft der Satz, dass jedes Angebot auch Nachfrage schafft, mehr zu als in den (para-) medizinischen Bereichen.

Durch die Entdeckung neuer „Krankheiten“ und die Schaffung von gesellschaftlich etablierten Zwängen wie Idealgewicht oder Jugendlichkeit werden die Geschäfte der Gesundheitsindustrie langfristig abgesichert. Die Kunden (früher: die Patienten, heute: Jeder) nehmen dies - wenig überraschend - dankbar an, denn die Hoffnung auf dauerhafte Gesundheit und bleibendes Wohlbefinden ist ein starkes, allerdings auch irrationales und daher kritiklos machendes Motiv. Neue medizinische Namen für alte Befindlichkeitsstörungen versprechen den Menschen rasche Abhilfe: was die Medizin benennen kann, dessen kann sie sich auch annehmen. Nöte und Sorgen aller Art kann man in einer medikalisierten Welt mit Fug und Recht an die Gesundheitsmanager delegieren.

Durch das Gesundheits-Diktat und durch die wachsende Einflussnahme von institutionellen „Gesundheitsvermittlungen“ wird aber der Raum, wo der Einzelne aus sich selbst heraus gesund sein kann und darf, immer enger. Wenn die Außenwelt vorgibt, wie Gesundheit und Wohlbefinden auszusehen haben, ist das Individuum letzten Endes fremdbestimmt. Und am Ende muss die Enttäuschung oder zumindest die Ernüchterung Platz greifen, denn ein garantiertes gesundes Leben lässt sich weder verordnen noch durch medizinische Einflussnahme oder Hilfe verlässlich gewährleisten.

So gesehen ist es fast schon ein Glück, dass den Gesundheitssystemen langsam das Geld ausgeht. Möglicherweise ist das nämlich ein Weg, auf dem die Gesellschaft zu einem differenzierteren Umgang mit ihren gesundheitsbezogenen Wünschen und Zwängen gelangt.

7
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
5 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Bernhard Juranek

Bernhard Juranek bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Bluesanne

Bluesanne bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Mindwave

Mindwave bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

liberty

liberty bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

5 Kommentare

Mehr von Marcus Franz