Eine Grundlage dafür, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, ist die Grenze an sich. Die Gesetze der Physik, der Chemie und der Biologie sind ohne Grenzen nicht vorstellbar: Begrenzungen sind die conditio sine qua non für Atome, Moleküle und geometrische Körper. Chemische Prozesse wären ohne Grenzen und definierte Räume nicht möglich. Zellen brauchen Zellwände, Organe brauchen Grenzen und Lebewesen ihre Reviere. Ganz grundsätzlich ist das Leben in der Grenzenlosigkeit weder möglich noch denkbar. Die Grenze stellt also ein Apriori dar, über dessen Bedeutung als Seins-Bedingung man gar nicht vernünftig streiten kann. Jede Infragestellung von Grenzen führt unweigerlich ins Metaphysische und ins Unendliche. Dort aber findet der rationale Diskurs bekanntlich rasch sein Ende und damit auch seine Grenze.
Grenzen sind ein Garant für die in der gesamten Biologie notwendige Ungleichheit der Entitäten, sie halten die Unterschiede aufrecht. Ohne Unterschiede kann Leben nicht funktionieren, weil es sich ohne Differenzierung gar nicht entwickeln kann. Anders gesagt: Grenzen sind eine Art Naturgesetz. Und Naturgesetze gelten in jedem Bereich und immer. Dabei ist es letztlich egal, ob wir über die Biologie, das Soziale oder über das Politische sprechen: Grenzen sind, was sie sind und wir können uns nicht über sie hinwegsetzen.
Wenn wir also heute Forderungen hören, dass wir die politischen Grenzen öffnen oder überhaupt abschaffen sollen, so muss uns klar sein, dass diese Wünsche entweder naiv oder perfide sind: Naiv sind sie, wenn sie dem Unwissen und dem romantischen Wunsch nach Einheit und Gleichheit entspringen und perfide sind sie, wenn sie von gebildeten Ideologen geäußert werden, die es insgeheim besser wissen. Grenzen sind Teil der dinglichen Welt und Grenzen sind nicht abschaffbar.
Grenzen gehören daher zum Politischen genau so wie die Sicherheitstür zur Wohnung: Kein vernünftiger Mensch würde seine Wohnung Tag und Nacht offen stehen lassen und dann nicht nachsehen, wer reinkommt. Politische (Staats-) Grenzen sind zwar verschieblich und durchlässig – wie etwa im Schengen-Raum – und man kann deren Verlauf diskutieren. Aber keine Argumentationskette der Welt ist in der Lage, sie wegzureden oder gänzlich aufzulösen. Auch der Schengen-Raum hat Grenzen und die EU ebenso.
Und gerade jetzt gerät auch dieser Schengen-Raum in heftige politische Deabtten, weil die versuchte Grenzenlosigkeit (wie vorhersehbar) zum Problem wurde. Was aus vernachlässigten, missachteten und schlecht gesicherten Grenzen wird, das erleben wir heute hautnah: Die Negation der Grenze führt ins Desaster. Für jene, welche die de facto unsichtbar gemachten Grenzen illegal überschreiten und für jene, die sie nicht ausreichend bewachen.
Und gerade durch die Tatsache, dass viele der aktuellen Grenzüberschreiter dies aus schlimmer Not tun und andere wiederum nur einfach probieren, in Europa illegal Fuß zu fassen, wieder ander in böser Absicht kommen, erlangt die Grenze umso mehr Bedeutung: Als Ort der Definition, der Kenntnisnahme und vor allem auch als Zone der Hilfe und insbesondere der Feststellung, wer überhaupt welche Hilfe braucht. Auch als Ort der Abwehr hat die Grenze ihre wichtige Bedeutung.
An Grenzen kann differenziert und dort können Entscheidungen getroffen werden. Und Grenzen sind eo ipso auch Orte, wo man Nein zu bestimmten Grenzüberschreitern sagen kann.
Wenn die durch Grenzen definierte Europäische Union bestehen will, dann muss Europa seine Grenzen verstärken und verteidigen. Entlang des Grenzverlaufes müssen Auffanglager und Hilfscamps gebildet werden und sich als fixer Teil dieser Grenze präsentieren. Und die innereuropäischen Grenzen brauchen ebenfalls mehr Konturen als man sich das für den Schengen-Raum gewünscht hat.
Auch dort sind Hilfs-, Entscheidungs- und Abwehrzonen denkbar. Denn Grenzen zu negieren führt unweigerlich zur quasi naturgesetzlich bedingten Auflösung Europas.