Die Politik hat im Allgemeinen nicht den besten Ruf: Viele meinen, sie sei heuchlerisch und unehrlich und sie würde weniger den Interessen des Volkes als jenen der Politiker selber dienen. Oft ist zu hören, die Politik würde den Bürger nur noch verdrießen und sie sei letztlich sowieso sinnlos, weil die wahren Entscheidungen ohnehin ganz woanders fallen. Das Unangenehme an diesen Feststellungen ist, dass sie alle einen ziemlich hohen Wahrheitsgehalt haben. Bis auf die letzte, die ist definitiv falsch.
Politik ist nämlich grundsätzlich nie sinnlos, denn ohne Politik gäbe es überhaupt keine funktionierende Gesellschaft – ganz einfach deswegen, weil das gesamte zivilisatorische Leben Politik ist. Und die politischen Entscheidungen werden natürlich in der Politik gefällt, zumindest in den westlichen Demokratien. (Dass den jeweiligen Entscheidungen oft ein massiver Lobby-Aktionismus und manchmal auch suspekte Machinationen vorausgehen, davon reden wir ein anderes Mal.)
Gerade, weil alles politisch und weil die Politik überall ist, muss angesichts ihrer zweifelhaften Verfasstheit eine grundlegende Frage geklärt werden: Warum ist Politik so oft so heuchlerisch, so unehrlich und so verdrießlich?
Politologen werden meinen, die vollständige Antwort auf diese Frage sei wohl so komplex wie die Politik selbst. Mag sein. Aber der Hauptgrund für die Verformung der Politik ist mit einem einfachen Faktum zu begründen: Wir können aus verschiedenen Gründen mit unserem wertvollsten politischen Gut nicht wirklich umgehen, es entgleitet uns nolens volens viel zu oft und wir kämpfen auch zu wenig darum: Die Rede ist von der Meinungsfreiheit. Zu Recht wird die freie Meinungsäußerung als das wichtigste Fundament der Demokratie bezeichnet. Sie ist die Essenz unseres gesamten demokratiepolitischen Denkens. Im Parlament gelten die Freiheit des Mandats und die Freiheit der Rede mit gutem Grund als förmlich sakrosankt.
Und doch wird diese unsere verfassungsmäßig geschützte Meinungsfreiheit immer wieder missachtet und eingeengt. Die politische Korrektheit, das jeweils gerade vorherrschende Medienklima und der daraus entstehende Mainstream geben die Korridore vor, in denen man reden und seine Meinungen äußern darf. Die Verfassung garantiert zwar die Redefreiheit, aber in der politischen Wirklichkeit ist nicht der vorgegebene gesetzliche Rahmen entscheidend, sondern viel eher die jeweilige Atmosphäre und die Lobbies, die gerade das Meinungsdiktat innehaben. Und natürlich regieren am Markt der Interessen immer die Mächtigsten. Manchmal sind es aber auch nur die lautesten Marktschreier oder jene, die sich am geschicktesten als Opfer gerieren.
Deswegen wird die Meinungsfreiheit auch und vor allem von Politikern oft nicht in Anspruch genommen. Zu groß ist die Angst, sie gegen Widerstände verteidigen zu müssen oder wegen einer bestimmten Aussage unter Druck zu geraten. Viele Politiker bewegen sich deswegen am liebsten nur in Sprechblasen. Das Motiv ist simpel: Man könnte ja mit zu klaren Statements einen politmedialen Schaden erleiden.
Der Beipacktext der Meinungsfreiheit lautet unmissverständlich: Achtung, Ihre freie Meinungsäußerung kann Ihre Existenz gefährden! Nirgends gilt diese Warnung mehr als in der Politik. Gesagt werden darf nur, was gerade opportun ist und einem bestimmten Interesse nützt. Ein Ausscheren aus dem Mainstream oder gar eine Gegenposition ist ausschließlich den politischen Beelzebuben erlaubt. Diese bezahlen einen recht hohen Preis dafür – sie können und dürfen eben immer nur die Bösewichte sein. Brav und geduldet ist nur, wer brav und geduldig zu allem nickt.
Im Parlament kondensiert der Ausfluss dieser Gegebenheiten zum allseits bekannten Klubzwang. Der Klubzwang ist zwar weder in der Geschäftsordnung des Hohn Hauses noch in einem Gesetz festgeschrieben, dafür ist er aber umso wirksamer. Auch wenn in den Klubs intern oft kontroversiell diskutiert wird – hinaus in das Plenum und in die Öffentlichkeit hat man mit einer einheitlichen Meinung zu gehen.
Die Mandatare werden durch den Klubzwang zur Manövriermasse der jeweiligen Partei-Interessen. Der Ausgang praktisch aller Abstimmungen ist immer schon im Vorfeld klar: Was die Regierungsparteien durchsetzen wollen, das kommt. Selbst wenn die Opposition die besseren Argumente hat und selbst wenn viele Abgeordnete der Regierungsklubs ganz andere Meinungen haben sollten als die öffentlich dargestellte – es gilt immer nur die Klublinie.
Das Politiker-Dasein erschwert somit paradoxerweise die Meinungsfreiheit. Vor allem für jene Politiker, die von der Politik existenziell abhängig sind und keinen "Zivilberuf" als Fangnetz haben. Für diese Kollegen gelten drei eiserne Regeln: Rede niemals frei von der Leber weg, sonst bist Du bald Geschichte. Besprich alle heiklen Themen immer schön brav mit deinen Mediensprechern. Und wenn Du keinen Auftrag „von oben“ hast, sag am besten gar nichts. In diesem Fall tritt nämlich automatisch Regel Nummer Eins in Kraft.
Angesichts dieser Realität überlegen sich viele Politiker jeden Satz naturgemäß dreimal. Und ohne professionellen Medienberater sagt man eben lieber nichts. Sonst braucht man vielleicht bald einen Berater der anderen Art: Nämlich einen, der auf den Shitstorm spezialisiert ist. Oder man muss sich überhaupt einen neuen Job suchen. Das ist für Berufspolitiker bekanntlich ziemlich schwierig- Was soll denn ein Nur-Politiker außerhalb der Politik schon tun? Fast niemand kann auf eine solide Karriere nach der Politik hoffen. Die schaffen nur ganz wenige. Die meisten müssen nach der Politik irgendeinen Versorgungsjob annehmen. Eine traurige Existenz, auch wenn das Schmerzensgeld dabei oft stimmt.
Damit sind wir auch schon bei der politischen Angst angelangt. Die Angst ist bekanntlich eine archaische und starke Emotion und sie gehört ganz wesentlich zur Politik - genauso wie das Streben nach Macht. Genauer betrachtet ist die Angst gewissermaßen die zweite Seite der Polit-Medaille: Vorne prangt die Macht, hinten lauert die Angst. In der Politik geht es ja ständig um die eigene Existenz und ums sogenannte „politische Überleben“. Status, Macht und Einkommen sind volatile Güter, die schnell weg sein können.
Übrigens: Für die meisten im politischen Umfeld tätigen Medienleute gilt das in leicht veränderter Form genauso. Auch sie laufen permanent um ihr Leiberl. Der Druck, eine "gute G`schicht" aus der Politik zu erhaschen, ist enorm. Und mediale Macht besitzt nur, wer die schnellste Information, das beste Interview oder den größten Skandal ergattert. Man könnte salopp formulieren: Des einen Shitstorm ist des anderen Geschäft.
Politiker brauchen und benützen die Medien und umgekehrt benützen und benötigen die Medien die Politiker. Man bewegt sich in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, die Ziele changieren und bleiben doch immer dieselben. Der Politiker braucht Stimmen und eine gute Presse, um wiedergewählt zu werden und die Medien müssen Inserate, Leser und/oder Seher lukrieren, um ihre Existenz finanzieren zu können. Diese Gemengelage beschert uns den oben beschriebenen unerfreulichen Zustand der Politik.
Oft wird geglaubt, dass die Ranküne und die ausgeklügelte Strategie das politische Geschehen beherrschen, aber der durchdachte Plan ist die echte Ausnahme. Wer ist denn schon ein Machiavelli`scher Fürst, der listenreich seine Handlungen plant? Die Realität ist ganz anders: Der politische Alltag ist einfach nur banal und genauso banal sind auch die Intrigen, die ohne Unterlass gesponnen werden. Angst, Überlebensdrang und Taktieren sind die pathognomonischen Symptome der Tagespolitik, ja der Politik überhaupt. Große Würfe oder klare weltanschauliche Haltungen, die mit Konsequenz und Verve vertreten werden, haben da wenig Platz. Das ist kein guter Befund und die hier beschriebene Realität ist schlecht für die Demokratie.
Aber es gibt Abhilfe. Eine würdige und meinungsstarke Volksvertretung kann es nur geben, wenn das Berufspolitikertum durch eine Sonderform der Meritokratie ersetzt wird. Das hieße konkret, dass Bürger, die als Abgeordnete tätig sein wollen, eine abgeschlossene Berufsausbildung und eine mindestens 5-jährige Praxis in ihrem Beruf vorweisen müssen. Anstellungen bei deklarierten politischen Institutionen (z.B. Parteien) sind als Praxis nicht zulässig. Der Beruf muss in der Wirtschaft, als Beamter oder als Selbstständiger ausgeübt werden. Auch während der aktiven Zeit als gewählte Vertreter in einer gesetzgebenden Körperschaft müssten alle Abgeordneten ihrem Zivilberuf im Ausmaß von mindestens 10 Wochenstunden nachgehen.
Ausgenommen von dieser Regel wären nur der Bundespräsident, die Nationalratspräsidenten, die Mitglieder der Bundesregierung und die Klubobleute. Für die Genannten gilt übrigens jetzt schon ein Berufsverbot, die Abgeordneten hingegen dürfen derzeit einen Zivilberuf ausüben, müssen aber nicht. Anders gesagt: Für Abgeordnete in Bund und Ländern wäre ganz klar das Berufs-Gebot einzuführen. Studenten, die als Abgeordnete aktiv sein wollen, müssten einen regelmäßigen Prüfungsnachweis erbringen. Ausnahmen gäbe es nur für Hausfrauen und –männer, die sich nachweislich der Erziehung ihrer Kinder widmen.
Überdies stünde allen Mandataren für die Zeit ihrer politischen Tätigkeit in ihrem Zivilberuf einen gesetzlich garantierten absoluten Kündigungsschutz zu, der auch zwei Jahre nach Ende des Mandats fortdauern muss. Nur so kann man Kündigungen aus politischen Motiven wirklich verhindern. Außerdem dürften Mandate generell nicht länger als zwei Funktionsperioden hintereinander ausgeübt werden.
Mit der Berufspflicht, dem befristeten Kündigungsschutz und der zeitlichen Begrenzung des politischen Mandates würden alle Abgeordneten jene Verantwortlichkeit und jene Freiheit gewinnen, die so vielen von ihnen bei der politischen Arbeit bitterlich abgeht. Und die Politik würde ihre Verdrießlichkeit und ihre oben beschriebenen Verformungen verlieren und endlich jene Kantigkeit bekommen, die wir uns alle so dringend wünschen.
(Dieser Blog erschien am 1.4. im Original auf meiner eigenen neune Blogseite www.unverwandt.at )