Im Zeitalter der politischen Korrektheit und der Gleichheit ist das „Bürgerliche“ zwar noch immer existent, aber aus der politischen Debatte ist es fast schon verschwunden. Es wird nämlich verdächtigt, elitäre Attitüden zu befördern. Wer heute explizit bürgerlich sein will, hat daher Rechtfertigungsbedarf. Die klassischen Bürgerlichen werden deswegen gerne im diffus definierten Mittelstand verortet, dort ist es am unverfänglichsten. Dieser soziologisch recht bunt zusammengesetzte Mittelstand ist zum Zugpferd der Gleichheit geworden, zwei Drittel der Bevölkerung fühlen sich dort heimisch.
Die Auflösung der Klassendistinktionen und das Hinschwinden des Bürgerstandes wird allerdings unterschiedlich bewertet: Von den Einen im Sinne der Gleichheit als Erfolg, von den Anderen aber als eine kontraproduktive Nivellierung nach unten. Staatlich verordnete Gleichheit bringt jedenfalls den Verlust von Freiheit und Identität und sie hemmt die für den Fortschritt notwendige soziale Elitenbildung.
Die Gleichheit ist heute das Dogma der Massen-Demokratie, sie hat Vorrang vor allen anderen Werten. War früher das politische Bekenntnis, sich als Bürgerlicher zu fühlen, durchaus Anlass für gesundes Selbstbewusstsein, so klingt heute dieselbe Ansage eher verstaubt und politisch nicht mehr ganz korrekt. Kaum eine der früher die Anschauungen der Bürgerlichen vertretenden politischen Gruppierungen bekennt sich daher noch zu den bürgerlichen Werten namens Wirtschaftsliberalität, Freiheit des Einzelnen, Leistungswille, Selbstverantwortung, Pflichtbewusstsein, Intellektualität, Familiensinn, Anstand und kulturelle Orientierung.
Bürgerlich sein heißt zunächst, selber auf sein Fortkommen in der Gesellschaft zu achten und sich anzustrengen, Ziele zu erreichen. Bürgerlich sein bedeutete einmal auch, soziale Strukturen, Solidarität und soziales Engagement persönlich zu pflegen und den Staat nur als einen Rahmen zu betrachten, der die Gesetze erlässt, die Einhaltung derselben überwacht und für die innere und äußere Sicherheit sorgt. Kollektivismus, Umverteilung und eine ausufernde staatliche Obsorge haben das auf dem Individuum aufbauende Wertegebäude des Bürgertums ersetzt.
Die kollektive Gesellschaft ist nun der alleinige Verantwortungsträger. Der Einzelne ist nicht mehr Bürger, sondern nur mehr Staatsbürger und als solcher vom Staate abhängig. Wo einst Eigenverantwortung und Individualität waren, soll nun die staatliche Fürsorge walten. Mit Killer-Phrasen wie etwa jener von der „Sozialen Gerechtigkeit“ werden alle Neuerungen im Sozialstaat gerechtfertigt. Die Armut, die natürlich immer noch da ist und die unter den Bedingungen der wachsenden Wohlfahrt laut Aussage vieler Sozialexperten sogar zunimmt, wird mit more of the same bekämpft. Funktionieren die vorhandenen Sozialstaatsstrukturen nicht, baut man eben noch mehr soziale Strukturen.
Sarkastisch könnte man sagen: Der Sozialstaat ist genau jene Krankheit, für deren Heilung er sich hält. Trotzdem oder gerade deswegen stellen die Werte und die Leistungen des Bürgertums nach wie vor jene Essenzen dar, die für den Bestand des Staates und die Entwicklung von Gesellschaft und Demokratie die Grundlage bilden. Wenn Haltungen wie Leistungswillen und Selbstverantwortung fehlen, droht unweigerlich der gesellschaftliche Zerfall.
Der egalitäre Wohlfahrtsstaat führt somit zu einem soziologischen Paradoxon: Zukünftig werden nicht mehr die Proletarier um ihre Rechte kämpfen müssen, denn diese sind längst wohlerworben. Im Klassenkampf 2.0 wird es vielmehr darum gehen, dass die noch vorhandenen Bürgerlichen der totalen Degeneration des anonymisierten Sozialstaates mit klaren Haltungen überzeugend entgegentreten. Denn nur durch das bürgertypische Engagement des Individuums kann das soziale Gefüge überhaupt erst gedeihen und sich weiter entwickeln.