Das Rollenbild des Arztes in der Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert. War der Arzt vor nicht allzu langer Zeit noch eine nahezu unantastbare und mächtige Figur, die nicht nur in ironischer Überzeichnung als der Gott in Weiß empfunden wurde, ist er heute zu einem quasi säkularisierten Medizin-Berater geworden, der den Spielregeln einer rationalisierten Welt unterliegt.

Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch einen Trend, der nicht zuletzt auf die 68er zurückgeht: in allen Lebensbereichen beobachten wir ein Schwächerwerden der Autoritäten. Gleichzeitig werden die Bürger immer mündiger und in der Medizin wird das Mündigsein des Patienten bereits als Dogma betrachtet.

Der Patient ist nicht mehr das bedingungslos diagnosen- und therapiegläubige passive Objekt der Medizin, der Patient ist heute vielmehr zu einem mitunter recht kritischen, aktiven und selbstbestimmten Subjekt in der Medizin geworden.

Ein guter Indikator für die Entmystifizierung des Rollenklischees „Arzt“ und die Machtverschiebung in der Arzt-Patienten-Beziehung sind die wachsende Zahl von Schadenersatzprozessen, die umtriebige Aktivität der Patienten-Anwälte und die mediale Aufmerksamkeit, die echten oder vermeintlichen ärztlichen Fehlern entgegengebracht wird.

Wo früher ein solcher Fehler als gleichsam gottgegeben hingenommen wurde und eine Klage gegen den behandelnden Arzt für die meisten Betroffenen beinahe unvorstellbar erschien, ist heute in so einem Fall der Gang zum Kadi schon Routine. Den alten Göttern war schwer beizukommen, den neuen medizinischen Dienstleistern und Handwerkern kann man aber durchaus misstrauen oder sie auch gleich einmal verklagen.

Und doch, bei aller dem rationalen Geist der Aufklärung entsprechenden zeitgemäßen Änderung der alten Klischees: die metaphysische Bedeutung der Arztgestalt, das ihr lange Zeit und nicht von Ungefähr anhaftende Image des gottähnlichen Wesens wird andererseits nach wie vor unbewusst gesucht und hergestellt.

Denn dieses Bild des Gottes in Weiß ist ein von den Ärzten zwar mitunter gern gepflegtes, aber nicht von ihnen erfundenes, es entspringt ja vielmehr einem nur allzu menschlichen Ur-Wunsch: Nämlich im Falle einer körperlichen oder seelischen Notlage einen Helfer zu haben, der nicht nur ein spezielles Können, sondern womöglich auch transzendente Kräfte besitzt. Schäden an Körper, Geist und/oder Seele sind eben keine Probleme, die man nur durch möglichst rational und entlang von Leitlinien agierende Menschenmechaniker beheben kann, sie beinhalten immer auch eine emotionale bzw. metaphysische Komponente.

Daher beobachten wir zur gleichen Zeit, in der die weißen Götter ihren Olymp zu Recht verlassen mussten, weiterhin bestimmte Phänomene der Idealisierung und Vergötterung von Ärzten: In den diversen Medien werden Ärzte implizit immer wieder in ihrer althergebrachten Erscheinungsform als die Götter in Weiß dargestellt. Auch wenn gerne über Kunstfehler und Medizinskandale berichtet wird, über die Erfolge und die Berühmtheiten der Medizin wird mindestens ebenso oft und bezeichnenderweise sehr gern in ehrfürchtigem Stil informiert.

Waren am Anfang bunt bemalte Medizinmänner die Objekte der Projektion von archaischen Hoffnungen, so sind es heute die medial perfekt aufbereiteten medizinischen und wissenschaftlichen Kapazitäten. Die Hochglanzmagazine sind in schöner Regelmäßigkeit die neuen Gebetsbücher der Medizin. Die dazugehörigen TV-Sendungen verbreiten ihre Evangelien dazu. Und die stets irgendwo publizierten Ärzte-Rankings lesen sich wie Sammelsurien von Heiligen-Bildchen mit Huldigungsschriften.

Insgesamt ergibt sich daraus heute ein ambivalentes Bild des Arztes: hier ist er ein Mensch wie jeder andere, mit gewissen speziellen Fähigkeiten und großer Verantwortung, der aber auch Fehler macht und Schwächen hat. Auf der anderen Seite stellt er das prophetische, unfehlbare und mächtige Wesen dar, das gottgleich über Tod und Leben entscheiden soll.

Wie könnten nun die Ärzte mit dieser durch und durch zwiespältigen neuen Rolle umgehen? Wahrscheinlich begegnen sie dem geänderten gesellschaftlichen Anspruch am besten, wenn sie zulassen, dass durch ein Vorantreiben der Rationalisierungsprozesse die irrationalen Erwartungen des Einzelnen an definitiv nicht vorhandene göttliche Eigenschaften des Arztes weiter abgeschwächt werden.

Gleichzeitig müssen die Ärzte aber darauf Wert legen, nicht zu reinen Menschenmechanikern reduziert zu werden, denn das Metaphysische und das Emotionale sind Entitäten, die auch aus dem modernen, rationalisierten Medizinbetrieb nicht ausgeklammert werden können. Ein gesundes Vertrauen in der Arzt-Patienten-Beziehung ist wohl der Grundstock für das Gelingen einer Behandlung.

Sicher ist jedenfalls, dass jegliches Beharren auf der Gottesrolle – und sei es auch nur aufgrund der unbewussten, über die Medien transportierten Wünsche der Allgemeinheit – in Wahrheit kontraproduktiv und schädlich ist, da dieses Wunschbild letzten Endes von niemandem erfüllt werden kann.

Sicher ist aber auch, dass der aktuelle Trend im System, die Medizin nur mehr in technologische Tools, in Kostenstellen und in messbare Einheiten zerlegen und die Ärzte in tayloristische Korsetts zwängen zu wollen, einer Kastration des freien Berufsstandes geichkommt, die Behandlung entmenschlicht und daher genauso kontraproduktiv ist.

Man wird den Konflikt über diese Richtungsentscheidung austragen müssen: Politisch und standespolitisch, mit den Sozialversicherern und man wird natürlich auch und vor allem mit den Bürgern/Patienten darüber reden müssen. Diese sind gemeinsam mit den Ärzten die Hauptbetroffenen von drohenden Systembrüchen. Fakt ist: Ohne Führungsrolle der Ärzte funktioniert kein Gesundheitssystem der Welt. Das sollte daher das Leitbild jedes medizinpolitischen Diskurses sein.

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dohle

dohle bewertete diesen Eintrag 10.01.2016 17:39:39

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