Gestern hatte ich Sex. Ich hatte lange keinen Sex. Ich bin in einem fremden Zimmer, in einem fremden Bett aufgewacht. Der Mann neben mir schläft noch. Mich hat meine innere Uhr bereits aufgeweckt. Der unbekannte Weg zum Bahnhof überfordert mich bereits im Schlafzimmer. Ich weiß nicht, wie lange ich von der Wohnung von Ben zum Zug brauche. Länger als normalerweise, das ist sicher! Aber wie viel länger - keine Ahnung, zehn Minunten oder weniger. Ich beeile mich, ich muss zum Zug. Außerdem muss ich raus aus dieser Wohnung, weg von diesem Typ.
Im Bad finde ich keine passenden Utensilien. Glücklicherweise habe ich immer eine Art Notfallpackage in meiner Handtasche. Duschen kann ich überall, also auch hier in der fremden Wohnung. Ben schläft. Merkt er nicht, dass ich schon aufgestanden bin, schläft er wirklich so tief? Unvorstellbar - so ein tiefer ruhiger Schlaf, neben einer fremden Person. Fremd ist wahrscheinlich in Bezug auf Ben und mich übertrieben. Wir sind uns durchaus vertraut, wir kennen uns seit Jahren. Haben miteinander studiert und sind bereits mehrmals gemeinsam um die Häuser gezogen. So auch gestern, eigentlich hätten wir uns nur einen After-Work-Drink gegönnt. Aus einem wurden viele und jetzt steh ich in einem fremden Bad, in einer mir unbekannten Wohnung. Ich war hier noch nie, wir haben uns immer in der Stadt getroffen. Nie bei ihm zu Hause, nie bei mir daheim.
Ich verlasse die Wohnung und mache mich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Ich brauche über 30 Minunten. Furchtbar, denk ich mir. Viel zu lange! Wie kann man nur so weit weg von den Öffis wohnen. Unfassbar, ich verpasse meinen Anschluss. Na ganz toll. Muss mich ärgern, über zu viel Alkohol am Vortag und zu viel Lust in der Nacht. Auf der Bank am Bahngleis ist noch ein Platz frei, ich setze mich. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, obwohl Winter ist - wärmt sie mich. Es ist zehn nach 9 Uhr. Neben mir nimmt eine ältere Dame platz. Sie kramt in Ihrer Handtasche, egal was sie sucht, sie sucht vergeblich. Nach einer Weile beginnt sie neben mir zu telefonieren. Ich glaube, sie spricht mit ihrer Tochter oder Enkeltochter. Keine Ahnung, fix weiblich. Es geht um Männer. Topthema, denk ich mir, das passt heute genau. Die beiden diskutieren über individuelle Vorstellungen von Beziehungen, inwieweit Liebe und Sex miteinander kombinierbar sind. Mir wird schlecht! Plötzlich beginnt die Dame darüber zu philosophieren, dass für die wahre Liebe echte Freundschaft Voraussetzung ist. Ganz wunderbar, denk ich mir. Soweit ist es also jetzt schon - es ist ganz normal, dass man mit einem Freund in die Kiste steigt? Es ist laut meiner Sitznachbarin die logische Konsequenz zwischen einer Freundschaft von Mann und Frau. Ja spinnt die eigentlich?
Endlich kommt mein Zug. Ich steige ein und bin froh, endlich am Weg in die Arbeit zu sein. Die ganze Fahrt über denke ich an Ben. Was uns verbindet, was wir schon miteinander erlebt haben. War das gestern der Beginn einer Liebesgeschichte oder haben wir unsere Freundschaft für immer verloren? Mein Kopf wird rot, wie dumm kann man eigentlich sein? Wir verstehen uns echt gut, Sex kann so viel kaputt machen. Ich will das nicht! Ich will nicht, alles zerstören - nur weil wir zu viel getrunken haben und ich zu selten Sex habe.
In der Arbeit fahre ich meinen PC hoch, neben zahlreichen neuen Mails - eine Nachricht von Ben: "Wir stehen drüber, oder?" Mir wird heiß und kalt zu gleich, ich beschließe ihm für längere Zeit aus dem Weg zu gehen.