“Where are you from?” Woher ich komme? Ich blicke von meinem Computer hoch und schaue in ein freundliches Gesicht. Eigentlich versuche ich gerade in der Hotel-Lounge herauszufinden, wo ich noch mitten im krisengeplagten Athen Bargeld abheben kann. “From Germany,” aus Deutschland, antworte ich, froh über die Ablenkung durch ein wenig Reise-Smalltalk. “Deutschland!” Die dunklen Augen meines Gegenübers beginnen zu strahlen. “Genau da reise ich hin!” Ich bin etwas überrascht. Deutschland ist für Europatouristen eher ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Prag, Paris oder Wien, selten das ersehnte Ziel. Und noch seltener strömt mir so viel Begeisterung über mein Herkunftsland entgegen, gerade in Griechenland. “Woher kommst du?” frage ich daher und schaue mir meinen Gesprächspartner genauer an. Er ist Mitte 30, hat wache braune Augen, trägt einen Drei-Tage-Bart, Shorts und T-Shirt. Ein typischer Sommertourist, denke ich – bis er antwortet: “Ich komme aus Syrien.”

Syrien. Vor lauter Grexit-Nachrichten habe ich beinahe vergessen, dass nicht weit von Athen immer noch ein schrecklicher Bürgerkrieg tobt. Das ist nicht unbedingt das beiläufige Geplauder, das ich hier im Hotel erwartet habe. Maziad ist so ziemlich das Gegenteil von einem Touristen. Er hat vor etwa sechs Monaten sein Heimatdorf am Euphrat verlassen und versucht seitdem mit zwei seiner Brüder nach Deutschland zu gelangen. Da ist es wieder, Deutschland. Jedes Mal, wenn Maziad es ausspricht, klingt es, als sei es das gelobte Land. Zwei seiner Freunde sind bereits in München und Stuttgart und dort möchte er auch hin. Er hat sich alles genau überlegt. “Ich bin eigentlich Grundschullehrer in Syrien, aber ich kann natürlich in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Ich muss erstmal die Sprache lernen. Ich werde dort direkt wenn ich ankomme einen Deutschkurs machen und dann nur mit Deutschen sprechen, so lernt man die Sprache am besten. Arbeiten werde ich wohl erstmal mit Computern. Ich kann Computer reparieren.

Aber selbst wenn das nicht klappt, ich kann jede Arbeit machen. Es ist ganz egal, was ich für einen Job bekomme, solange ich nur arbeiten kann.” Ich denke an das abgebrannte Flüchtlingsheim in Freital bei Dresden und die Demos von Pegida und frage mich, wie vielen der Demonstranten eigentlich klar ist, dass gerade die Flüchtlinge unser Land mehr wertschätzen als so mancher Deutscher. Ich sage jedoch nichts und frage stattdessen: “Was ist mit deiner Familie?” “Meine Schwester, mein ältester Bruder und meine Schwester sind in Syrien geblieben. Nur ich und meine zwei anderen Brüder reisen nach Deutschland.” Er zeigt mir auf seinem Handy Fotos von seiner Familie. Ein älteres Ehepaar, eine junge Frau und ein junger Mann sitzen lächelnd im Garten vor einem prall gedeckten Tisch. Die Familie hat Maziad das Foto vor einigen Minuten geschickt, damit auch er in der Ferne mit ihnen am Ramadan teilhaben kann. “Ich vermisse meine Familie sehr, vor allem meinen Vater.” Maziads strahlende Augen werden glasig. Doch er schiebt die traurigen Gedanken und die Sehnsucht nach seiner Familie schnell weg. “Wenn ich genug Geld in Deutschland verdient habe, soll meine Familie nachkommen. Aber nicht wie ich, über Land und per Boot, sondern im Flugzeug.”

Ich frage ihn, ob seine Familie denn sicher sei in Syrien. “Relativ sicher. 50-50, würde ich sagen.” Ich blicke ihn skeptisch an. 50-50? Er erklärt: “Noch ist es in meinem Ort nicht so schlimm. Zumindest nicht für meine Familie. Als junger Mann aber ist es komplizierter. Du musst dich für eine Seite entscheiden und kämpfen. Du kannst nicht zu Hause bleiben. Entweder kämpfst du für Bashar_al-Assad, IS oder die kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Ich will aber nicht kämpfen. Ich will keinen Krieg, ich will nur Brot und Frieden für meine Familie.” Neutralität scheint in Syrien keine Option mehr zu sein. Junge Männer müssen sich entscheiden, ob sie für einen Diktator, für Rebellengruppen oder Dschihadisten kämpfen wollen. Gerade die scheinen Maziad am meisten Sorge zu bereiten. “Ich bin Moslem, aber was ISIS sagt und wofür sie kämpfen, das ist nicht Islam. Sie nutzen Islam nur als Symbol, um andere umzubringen und ihre Gesetze zu etablieren.” Er erzählt, wie der IS seine Gemeinde terrorisiert. Wer zum Beispiel als Mann kurze Hosen trägt oder keinen langen Bart hat, wird von der Dachterrasse geschubst und kurzerhand umgebracht. Den Frauen werden die Handys weggenommen. Rauchen ist auch verboten. Als IS-Kämpfer einen Freund von Maziad beim Rauchen erwischten, haben sie ihm die Finger mit dem Feuerzeug gebrochen. Er zeigt mir ein weiteres Foto auf seinem Handy: eine prachtvolle Brücke, die über den Euphrat führt. “Diese Brücke haben die Franzosen gebaut. Bei uns ist es Tradition, dass jeder Junge seine Freundin über die Brücke spazieren führt. So hat fast jeder von uns viele schöne Erinnerung an diese Brücke. Jetzt sieht sie so aus.” Auf dem nächsten Foto sehe ich die komplett zerstörte Brücke. “Der IS hat sie gesprengt, weil Ungläubige sie gebaut haben. Das ist doch alles Unsinn, so kann man doch nicht mehr leben!”

Genau deswegen ist Maziad, wie viele Millionen andere Syrer auf der Flucht. Wer mehr Geld hat, verkauft sein Haus in Syrien und versucht mit falschen Pässen und per Flugzeug nach West- und Nordeuropa zu gelangen.Wer wie Maziad kein Geld hat, muss sich Geld leihen und den schwierigen Land- und Wasserweg gehen. 7000 Dollar hat sich Maziad geliehen, um nach Deutschland zu kommen. Im Dezember ist er in die Türkei eingereist, als die Grenzen noch offen waren. Hier musste er fast sechs Monate warten, bis die Winterstürme sich gelegt hatten und er endlich einen Schleuser gefunden hatte, der ihn und seine Brüder für 5000 Dollar per Boot nach Italien schmuggeln wollte. Am Tag der Abfahrt war der Schleuser da, aber kein Boot. “Er hat mir gesagt, dass es keine Boote mehr gibt im Moment. Als ich daraufhin mein Geld wieder haben wollte, hat er nur gelacht. So hatte ich dann fast kein Geld mehr und war noch immer in der Türkei.” Und damit noch sehr weit weg von Deutschland.

Er und seine Brüder beschlossen deshalb mit dem Boot zur nahegelegenen griechischen Insel Lesbos zu fahren und von dort über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland zu reisen. “Wie konntest du denn das Boot nach Lesbos bezahlen?” wundere ich mich. Ein gutmütiger Kapitän bietet ihm an, dass er ihn und seine Brüder umsonst mitnimmt, wenn Maziad das Boot selbst steuert: “Er hat mich gefragt, ob ich das kann. 'Klar!' hab' ich gesagt, obwohl ich noch nie in meinem Leben ein Boot gesteuert habe.” Er schafft es aber, das Boot und weitere Flüchtlinge sicher nach Lesbos zu bringen. “Wenn du in einer Notsituation bist und ein Ziel hast, gehst du einfach weiter. Egal wie schwer es ist.” In Lesbos etwa sind sie zwei Tage lang 60 Kilometer zum nächsten Hafen gelaufen, fast ohne zu schlafen, weil sie Angst hatten, von der Polizei erwischt zu werden.

Wer als Syrer an den Außengrenzen der EU einreist, bekommt den jeweiligen Landesstempel in den Pass. Länder wie Griechenland, Spanien, Italien oder Ungarn bekommen so für jeden abgestempelten Pass Geld von der EU. Denn sie verpflichten sich damit, diese Flüchtlinge bei sich im Land aufzunehmen. Für die Flüchtlinge heißt das aber, dass sie so nie nach Deutschland oder Frankreich oder Schweden gelangen können. Denn mit dem Grenzstempel im Pass können diese Länder wiederum die Flüchtlinge abweisen und zurück in die EU-Grenzländer schicken. “Das Land, in dem dein Pass abgestempelt wird, ist das Land, in dem du bleiben musst,” erklärt Maziad. “Aber was soll ich in Ungarn, Italien oder Griechenland? Da ist die wirtschaftliche Situation doch genau so schlecht wie in Syrien. Da kann ich kein Geld verdienen, um meine Schulden abzubezahlen oder meine Familie aus Syrien herausholen!” Eine schwierige Situation. Einerseits ist es nachvollziehbar, dass die EU-Länder die Einwanderung von Flüchtlingen regulieren und die Ankommenden gerecht in alle Länder verteilen wollen. Andererseits hat Maziad sich seine Situation nicht freiwillig ausgesucht. Er will einfach nur in Frieden leben. Er lächelt wieder: “Ich muss jetzt los, meine Brüder und ich essen jetzt zu Abend. Aber ich rufe dich an, wenn wir in Deutschland ankommen. Bis dahin, erzähle allen von meiner Geschichte!"

Als ich am nächsten Morgen wieder in die Hotel-Lounge gehe, sind Maziad und seine Brüder schon abgereist. Ich frage mich, ob Maziad mich wohl jemals aus Deutschland anrufen wird …

Einen Monat später, eine Nachricht von Maziad auf Facebook: Wir sind in Deutschland!

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fischundfleisch

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Silvia Jelincic

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