Martin Balluch
Wir schreiben das Jahr 1919, der Weltkrieg ist gerade zu Ende gegangen. Die Menschen leiden Hunger, auch mitten in den Bergen der Obersteiermark. 3 junge Burschen aus dem Knappengraben sind gesund vom Krieg zurück gekehrt. Um ihre Familien zu ernähren, gehen sie auf die Pirsch, mit rußgeschwärztem Gesicht. Wilderer.
Das Gebiet gehört dem Grafen von Meran, einem direkten Nachfahren von Erzherzog Johann. D.h. Graf darf er sich eigentlich nicht mehr nennen, aber wirklich zu merken ist diese Änderung in der Gesellschaft nicht. Meran hält sich 15 Revierjäger auf seinem Brandhof, zuständig von Seewiesen bis Weichselboden. Einer davon ist Josef Pölzl.
Der 23. März 1919 ist ein Sonntag, für fromme Menschen Zeit für den Kirchgang. Und wer ist das in diesen Tagen nicht? Josef Pölzl jedenfalls hat sein Sonntagsgewand angezogen und ist auf dem Weg über den Seebergsattel zur Kirche nach Seewiesen. Vor 10 Tagen ist er gerade 60 geworden, da muss man in dieser bewegten Zeit schon Gott danken, noch gesund und am Leben zu sein. Plötzlich ein Schuss im Lappental. Immer wieder waren in letzter Zeit Schüsse zu hören gewesen, Wilderer müssen unterwegs sein. Die Wilderei, ein Kapitaldelikt, ein Affront gegen den herrschaftlichen Jagdherren. Für den leitenden Revierjäger Pölzl Grund genug, seinen Kirchgang zu verschieben und schleunigst zu seinem Haus beim Brandhof zurück zu kehren. Er schnappt sich sein Gewehr und macht sich auf den Weg in den Knappengraben, um die Täter abzufangen.
Die 3 Burschen wissen, dass sie heute viel riskiert haben. Mitten am hellichten Tag zu wildern, in Hörweite zum Herrschaftshaus. Ihre Beute ist eine Gemse, sie beeilen sich, damit ins Tal zu kommen. Doch irgendwie spüren sie, das ist heute nicht so einfach. Bald flüchten sie durch den Postlwald in den Knappengraben. Einer Eingebung folgend legen sie den toten Körper samt dem Gewehr unter die Brücke der Straße über den Bach. Und weiter geht die Flucht, in den Lerchgraben hinein. Pölzl ist ihnen auf den Fersen.
Sie flüchten zu dritt den Weg durch den tiefen Schnee hinauf zum Sattel nach Aschbach. Unter diesen Bedingungen kann Pölzl ihre Spuren nicht verfehlen. Oben angekommen beschließen sie, sich zu trennen. Sternförmig ziehen sie in 3 Richtungen davon, im Schnee hinterlassen sie eine Botschaft, der Jäger solle umkehren, das wäre besser für ihn. Doch dieser lässt sich nicht beirren, folgt jener Spur, die an die Nordseite des Schütterecks führt, direkt zum Sommerecker Sattel hinüber in die Rotsohl.
Der Bursche sieht keine Möglichkeit mehr, zu entkommen. Pölzl kann seine Spur nicht verlieren, im tiefen Schnee voran zu gehen ist wesentlich anstrengender, als zu folgen. Bald versteckt er sich hinter einem Baum. Als Pölzl nahe genug ist, springt er ihn an. Im Weltkrieg war derjenige der Held, der als erster schoss oder zustach. Warum sollte das jetzt anders sein? Der junge Mann ist stärker als sein 60 jähriger Gegner, wirft ihn zu Boden, reißt seinen Wanderstock an sich und sticht ihm mit der Metallspitze in den Nacken, sodass diese abbricht. Festnehmen lassen will er sich nicht. Nicht von den herrschaftlichen Revierjägern, nicht, wenn seine Familie dann zu Hause Hunger leidet. Nicht ohne Gegenwehr.
Josef Pölzl ist schwer verletzt. Er schreit, schreit laut um Hilfe. Der Wilderer flüchtet, hofft, nicht erkannt worden zu sein. Pölzl kann nicht mehr aufstehen. Seine Schreie werden aber gehört, unten im Lerchengraben ist eine alte Keusche. Die Bäuerin wird später zu Protokoll geben, seltsame Geräusche vernommen zu haben. Das alarmiert sie aber nicht so sehr, sich auf die Suche zu begeben. Jäger Josef Pölzl kommt am Abend nicht zu Hause beim Brandhof an. Im Lauf der kalten Nacht stirbt er da oben im Schnee unter dem Gipfel.
Sein junger Jägerkollege am Brandhof, Josef Fluch, leitet am nächsten Tag die Suchaktion. Es ist nicht schwer, die Spur zu verfolgen. Pölzl wird tot aufgefunden und man ruft die Gendarmerie, die die Spuren am Tatort aufnimmt. Pölzls Leichnam wird unten in Wegscheid obduziert. Ob er das Beuschel des Waidmannes für seine Familie haben könne, soll der Friedhofswärter gefragt haben, man leide doch so Hunger.
Josef Fluch ist danach der leitende Revierjäger von Meran geworden. Die abgebrochene Metallspitze des Wanderstocks, die im Nacken von Josef Pölzl gesteckt ist, trägt er bis zu seinem Lebensende 1954 als Talismann um den Hals. Seine Tochter lebt heute noch im Bachbauerngraben. Sie hat mir diese Geschichte erzählt.
Im September 1919 hat man drei verdächtige Burschen im Knappengraben arrestiert und verhört. Sie schwiegen eisern und mussten später wieder freigelassen werden. Den Menschen im Dorf war aber immer klar, wer die drei Wilderer waren. Heute noch lebt ein Großneffe einer der Täter im Knappengraben. Naja, es herrschte halt Hunger damals. Und dass sich einer gegen die Herrschaft aufzutreten traut, das braucht schon eine Schneid, die man bewundert.
Noch im Jahr 1919 wird ein Marterl am Tatort eingeweiht. Die versammelte Jägerschaft kniete nieder und rief den Heiligen Hubertus zum Schutze an. Auch drüben in der Veitsch hat ein Wilderer einen Jäger getötet.
März 2017. Der Vorfall ist fast 100 Jahre her. Heute folge ich den Spuren von damals. Der Weg zum Schüttereck hinauf heißt nun „Pölzlweg“. Vom Sattel nach Aschbach hinüber quere ich Richtung Sommereck. Da steht sie, die Bildsäule, im düsteren Wald, abseits von jedem Weg. Kaum jemandem ist das bekannt. Zwar hat man hier mittlerweile die Bäume seither einmal gefällt, doch einige der alten Urwaldriesen durften am Leben bleiben. Sie müssen stumme Zeugen des Vorfalls von damals gewesen sein. Der Text unter dem gemalten Bild, das St. Hubertus vor dem Hirsch mit dem Kreuz zeigt, ist kaum zu lesen: „Josef Pölzl, Graf Meran'scher Revierjäger, geb. 13. März 1859, in treuer Erfüllung seiner Pflicht, ermordet am 23. März 1919.“
Martin Balluch