Der selbst nicht unproblematische, politisch wendige Erich Kästner formulierte den nach 1945 entstehenden österreichischen Opfermythos mit den Versen:
„Ich habe mich zwar hingegeben, doch nur weil ich gemusst. | Geschrien habe ich nur aus Angst und nicht aus Liebe und Lust. | Und dass der Hitler ein Nazi war – das habe ich nicht gewusst.“
Neben den unmittelbar Verfolgten und Opfern der NS-Diktatur, die in Konzentrationslagern und Gefängnissen ermordet wurden, gab es auch zahllose „mittelbare“ Opfer. Menschen, welche dem Druck einer drohenden Verfolgung nicht mehr standhielten und sich z. T. aus Angst vor der Verhaftung das Leben nahmen. Selbsttötungen aus Verzweiflung, kurz nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, um nicht in die Hände der Schergen von Gestapo, SA und SS zu fallen.
Egon Friedell (* 21. Januar 1878 in Wien; † 16. März 1938 ebenda), Lothar Fürth (* 03. Februar 1897 in Wien, † 03. April 1938 ebd.), Ernst Epstein (* 4. Januar 1881 in Wien; † 21. Mai 1938 ebd.).
Ernst Epstein war ein österreichischer Architekt und Baumeister jüdischer Herkunft. Sein Büro errichtete an die 100 Gebäude in Wien, zahlreiche davon in eigener Planung. Epstein, ein Cousin von Karl Kraus, war 28 Jahre alt, als er zum Bauleiter des bekannten Looshauses am Wiener Michaelerplatz, eines der bekanntesten und umstrittensten Gebäude in der Architekturgeschichte Wiens wurde. Aus Angst vor der Verhaftung durch die Gestapo, nahm Epstein einige Wochen nach dem Anschluss Österreichs, am 21. Mai 1938, dem Tag nach der Einführung der Nürnberger Rassengesetze in Österreich, in einem von ihm erbauten Haus im Wiener Stadtbezirk Hietzing eine Überdosis Veronal.
Lothar Fürth war Arzt und leitete in zweiter Generation das 1895 von seinem Vater gegründete Sanatorium Fürth in Wien-Josefstadt. Mit zwei Operationssälen und 54 Krankenzimmern war das private Sanatorium auf eine Kapazität von etwa 1.200 Patienten pro Jahr ausgelegt und gelangte zu überregionaler medizinischer Reputation. Aufgrund massiver antijüdischer Ausschreitungen beging Lothar Fürth gemeinsam mit seiner Frau Suse (Susanne), am 03. April 1938, Selbstmord in ihrer Wohnung in der Josefstadt, nachdem sie am Vortag vor ihrem eigenen Sanatorium zu einer der „Wiener Reibpartien“ – jener demütigenden Straßenreinigung unter Aufsicht der SA und dem schadenfrohen Grinsen der vielen zusehenden „Nur-Dabeigewesenen“ gezwungen worden waren.
Die Werke des Schriftstellers, Kulturphilosophen und Journalisten Egon Friedell, allen voran die Kulturgeschichte der Neuzeit, wurden ab 1937 von den Nationalsozialisten laufend beschlagnahmt und ab 1938 verboten. Friedell erwartete nach dem Anschluss Österreichs sowohl aufgrund seiner jüdischen Herkunft als auch wegen seiner NS-kritischen Artikel, in erhebliche Schwierigkeiten zu gelangen. Die Schriftstellerin Berta Zuckerkandl versuchte vergeblich, noch am Tag des Anschlusses, am 12. März 1938, gemeinsam mit ihrem Schwager Paul Clemenceau, dem Bruder des französischen Staatsmannes, Friedell zur gemeinsamen Flucht in einem vorbereiteten Diplomatenwagen zu überreden. Bereits wenige Tage später, am 16. März 1938 läuteten zwei SA-Männer abends an Friedells Wohnungstüre, im dritten Stock in der Gentzgasse 7, in Wien-Währing, um ihn zu verhören. Um einer Verhaftung zu entgehen, stürzte sich Egon Friedell aus dem Fenster und verstarb noch an Ort und Stelle.
Bis zum heutigen Tag existiert in Wien keine Straße, die nach Ernst Epstein oder Lothar Fürth benannt ist. Hingegen ist nach Wilhelm Schmieger, 1901‐1919 Stürmer der österreichischen Fußballnationalmannschaft, NSDAP-Mitglied ab 1941 (Mitgliedsantrag 29.06.1938), Sportreporter und Sportschriftleiter der Kronen Zeitung bis 1942, Sportberichterstatter des Reichssenders Wien bis 1944, nach wie vor eine Straße in Wien-Währing benannt. Anstelle von Wilhelm Schmieger könnte künftig in Wien an Ernst Epstein oder Lothar Fürth erinnert werden.
Dominik Schmidt
Die digitale Kunstinitiative „Memory Gaps ::: Erinnerungslücken“ von Konstanze Sailer gedenkt im März 2018 NS-Opfern mit Ausstellungen in Wiener Straßen, die es geben sollte: "Im Anschluss: Selbsttötung"
Bildausschnitt: „Schrei 22:04 Uhr“, 2016, Tusche auf Papier, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer https://www.memorygaps.eu/gap-märz-2018/