Memory Gaps erinnert unter dem Titel „Kinder bergen“ an Janusz Korczak und jene etwa 200 Waisenkinder, die der Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller aus moralischer Selbstverpflichtung in die NS-Gaskammer des Vernichtungslagers Treblinka begleitete.
Henryk Goldszmit wurde unter seinem Künstlernamen Janusz Korczak bekannt. Er war ein polnischer jüdischer Kinderarzt, Pädagoge, Schriftsteller und Leiter eines, im Jahr 1912, nach seinen eigenen Plänen errichteten Waisenhauses in Warschau. 1878 geboren, bestand Korczak im August 1942 darauf, die etwa 200 jüdischen Kinder seines Warschauer Waisenhauses, die von der SS abgeholt und in das NS-Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, zu begleiten. Obwohl er die Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, ließen er und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczynska die Kinder nicht im Stich. Wissend, dass dies auch für sie selbst den Tod bedeuten würde, begleiteten sie ihre Waisenkinder in die Gaskammer. Sie alle wurden vermutlich bereits kurz nach dem 5. Aug. 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.
Vor diesem Hintergrund erhält der Gedanke von Janusz Korczak, "jedes Kind hat das Recht auf den heutigen Tag", ein schier unendliches Gewicht und verschlägt die Stimme.
Zu den grauenhaftesten aller Tatbestände der jüngeren Geschichte Europas zählt die infernalische Ermordung von mehr als 1,5 Millionen Kindern während des Holocaust. Wie bereits in den Monaten März bis Juni 2017, erinnert Memory Gaps erneut an vier jüdische Kinder, die im Alter von 4 bis 13 Jahren im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurden.
Judis Weißblüth (* 15. September 1939 in München; † 16. oder 17. März 1943 im Vernichtungslager Auschwitz) wohnte seit ihrer Geburt im Kinderheim der Israelitischen Jugendhilfe in Schwabing. Gemeinsam mit ihren Erzieherinnen lebte sie infolge der behördlichen Auflösung des Kinderheims ab 1942 im sogenannten Barackenlager, einem Sammellager in München Milbertshofen, danach im Sammellager im Stadtbezirk Berg am Laim. Am 13. März 1943 wurde Judis Weißblüth gemeinsam mit den verbliebenen Erzieherinnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort am 16. oder 17. März ermordet.
Ernst Tockus (* 28. September 1936 in München; † 1943 im Vernichtungslager Auschwitz), war mit seiner Familie 1938 nach Antwerpen geflohen. Ab Mai 1940 wurde Belgien von NS-Deutschland militärisch besetzt, die jüdische Familie wurde verhaftet und in der Kaserne Dossin, dem SS-Sammellager in Mechelen/Malines bei Brüssel festgesetzt. Von dort wurde Ernst Tockus gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester, am 15. Januar 1943, nach Auschwitz-Birkenau deportiert und vermutlich bereits kurz nach seiner Ankunft ermordet.
Ellen Berta Marxsohn (* 12. März 1929 in Mainz; † 1942 im Vernichtungslager Auschwitz) flüchtete 1939 gemeinsam mit ihren Eltern nach Frankreich. Im Zuge mehrerer Wohnortswechsel wurde die Familie von den mit den Nationalsozialisten kooperierenden Vichy-Behörden im südfranzösischen Sammellager Les Milles, in einem Vorort von Aix-en-Provence, interniert. Wenig später übergab die Vichy-Polizei die gesamte Familie an die Gestapo. Ellen Berta Marxsohn wurde am 7. September 1942, gemeinsam mit ihren Eltern, vom Durchgangslager Drancy nach Auschwitz-Birkenau deportiert und vermutlich bereits kurz nach ihrer Ankunft ermordet.
Paul Sternberg (* 26. Februar 1936 in Wien; † 1943 im Vernichtungslager Auschwitz), war mit seinen Eltern rechtzeitig nach Frankreich geflohen. In der Nähe der ostfranzösischen Stadt Besanςon wurde die Familie verhaftet, interniert und vom Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris, am 9. Februar 1943, in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Paul Sternberg wurde vermutlich noch vor seinem achten Geburtstag, kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz ermordet.
Die digitale Kunstinitiative Memory Gaps der Malerin Konstanze Sailer wird mit einer weiteren Präsentation von Tuschen auf Papier in virtuellen Räumen eröffnet. Die Galerien befinden sich ausnahmslos in Straßen oder an Plätzen, die es nicht gibt, die es jedoch geben sollte: solche mit Namen von Opfern der NS-Diktatur. Monat für Monat wird so das kollektive Gedächtnis erweitert. Monat für Monat werden damit Erinnerungslücken geschlossen.
Memory Gaps ::: Erinnerungslücken zeigen eine Auswahl aus tausenden Tuschen auf Papier aus zehn Jahren. Sie stellen Schreie und Aufschreie von Opfern dar. Zum schmerzerfüllten Aufschrei geöffnete Münder und Kiefer. Abstrakte Darstellungen von Schreien in Ghettos, Konzentrationslagern und NS-Tötungsanstalten – gemalte Erinnerungskultur. Seit drei Jahrzehnten arbeitet die aus Heidelberg stammende und in Wien lebende Künstlerin zu den Themen Antlitz, Schädel und Tod. Tusche auf Papier wurde als Technik gewählt, um der "Filigranität" jener „Papierfetzen“ nachzuempfinden, auf denen in Konzentrationslagern inhaftierte Künstler – zumeist im Geheimen – ihre Kunstwerke herstellten.
Dominik Schmidt
Zur Memory Gaps April-Ausstellung "Kinder bergen"
Hier gelangen Sie zum (kostenlosen) Download des E-Books "Die braune Gegenwart", München/Wien 2017, in dem die Kunstaktion Memory Gaps ::: Erinnerungslücken von 2015 bis Herbst 2017 zusammenfassend enthalten ist, Formate: mobi (Kindle), epub und PDF (Umfang 70 S., mit 32 Abb.).
Bildausschnitt: „Schrei 12:28 Uhr“, 2018, Tusche auf Papier, 48 x 36cm; ©: Konstanze Sailer https://www.memorygaps.eu/gap-april-2018/