Aufgrund von vielen historischen Beispielen gelangte ich irgendwann zu der Überzeugung, dass es zunächst gewisse Strömungen und "Zivilisationsstufen" brauchte, um erst die Nächsthöhere zu ermöglichen. Aus einer Reihe sich anbietender Beispiele, wie etwa dem Feudalismus oder dem Kolonialismus wähle ich zur Veranschaulichung den Absolutismus: Die meisten Menschen verstehen unter diesem Begriff eine schreckliche Zeitphase, in der die betroffenen Gesellschaften einen Rückschritt machten. Aus meiner Sicht war er aber viel eher eine notwendige Entwicklung - durch den Absolutismus wurde der gesamte niedere Adel entmachtet und konzentriert, aus dem machtpolitischen Fleckerlteppich wurden solide Blöcke, die ihrer mehrheitlich homogenen Beschaffenheit wegen den Grundstein für den Nationalismus bildeten.
Allzu gerne werden heutzutage die Begriffe "Patriotismus" und "Nationalismus" miteinander verquickt - das eine beschreibt ein Gefühl, das andere ein Konzept. Wiewohl Menschen bereits seit der Antike (und noch früher) patriotische Gefühle gehabt haben mochten, von Nationalismus konnten sie unmöglich gehört haben. Das Konzept des Nationalismus ist vordergründig auf eine Beschäftigung mit einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum ausgelegt - wer auch noch gemeinsame Körpermerkmale zu finden sucht, vereint Nationalismus mit Rassismus. Kommt dann auch noch ein Überlegenheitsgedanke bzw. ein Sendungsbewusstsein hinzu, haben wir das gefährliche Gemisch eines chauvinistischen Sozialdarwinismus vorliegen - der Stoff aus dem die NSDAP und weitere, weniger erfolgreiche Bewegungen gewebt wurden. So wie der Kommunismus mit dem Stalinismus, Maoismus oder Leninismus; der Kapitalismus mit dem Manchesterliberalismus, dem Rheinischen Kapitalismus oder der Österreichischen Schule verschiedene Auslegungsarten der Ideologie anbieten, so bietet sie auch der Nationalismus an. Entscheidend ist jedoch die Quintessenz: Der Versuch, über eine Einigung des gemeinsamen Sprach- und Kulturraumes zu einer Position der Stärke und gesteigerten Handlungsfähigkeit zu gelangen. (Dass die volle staatliche Handlungsfähigkeit schon alleine mit dem Hinzukommen mehrerer Sprachgruppen nicht mehr gewährleistet ist, bewies die K.u.K-Völkergemeinde hinlänglich.) Ob man von dieser Position aus konstruktive wirtschaftliche, oder destruktive militärische Konkurrenz in der Wechselwirkung mit anderen Nationalstaaten anstrebt steht auf einem anderen Blatt.
Herabgebrochen auf den Einzelnen drückt sich der Nationalismus durch ein Denken innerhalb eines vertrauten Umfeldes aus - eines Umfeldes, das nicht nur dieselbe Sprache spricht, sondern die selben Meme, den selben Habitus und die gleichen gedanklichen Konzepte wiedergibt, die einem selbst innewohnen. Ein Nationenverständnis ist also organisch beschaffen - driften gewisse Vorstellungen zu weit auseinander droht eine Spaltung der Nation. DieIdentifikation mit einer größeren Gruppe (was den Nationalismus im Kern ausmacht) ist keine feste Größe. In der Hypthese hieße das: Mit einer gemeinsamen weltweiten Sprache sowie geltenden Normativen (z.B. die Menschenrechte) kann man den Nationenbegriff sogar auf die Weltbevölkerung anwenden (sofern die Selbstidentifikation der Individuen als Teil einer solchen gegeben ist). Das wiederum entspräche einem weiteren, vollführten Zwischenschritt im menschlichen Werdegang.
Der Nationalismus als Leitgedanke ist unter gewissen Gesichtspunkten ein notwendiger Zwischenschritt für die Entwicklung von Staaten: Wenn der zum Erhalt von gesellschaftlich essenziellen Dingen notwendige Teil der Bevölkerung auch auf andere Spitzenleistungen von Bevölkerungsvertretern, die diese Dinge nicht produzieren stolz sein kann, als bloß auf gewonnene Fußball-Nationalmannschaftsspiele, entsteht ein phänomenales Wir-Gefühl. Auf Wikipedia wird dieses Wir-Gefühl als "Loyalität gegenüber der Regierung" gedeutet (was den Nationalismus schnell gefährlich erscheinen lässt; natürlich berechtigterweise, da die bedingungslose Loyalität gegenüber einer Regierung de facto einer Autokratie entspricht), in Wahrheit bezieht sie sich aber auf die Gruppe der Identifikation, also der Nation. Dieses Wir-Gefühl hat im Grunde nichts mit der destruktiven Überheblichkeit eines chauvinistischen Nationalismus zu tun, sondern sorgt statistisch belegt dafür, dass das BIP und die Lebenszufriedenheit steigen und die häusliche Gewalt sowie Kriminalität generell sinken. Wir haben also erstrebenswerte Trends vorliegen. Stammleser werden erkennen, dass ich jenes psychologische Muster, das ich zuvor in Sex Teil I: Patriarchalisches Erbe beschrieben habe, hier auf einen großen Maßstab umlege - Menschen (speziell Männer), die beruflich keine Heldentaten vollführen können, wollen sich immerhin mit solchen identifizieren; da sie gebraucht werden um überhaupt den Helden ein Gedeihen in einer Welt ohne Mangel zu ermöglichen, haben sie dazu meines Erachtens auch das volle Recht. Über dem vorhandenen kulturellen Fundament entsteht ein Bewusstsein für die staatliche Beschaffenheit und erst daraus die bürgerliche Mündigkeit für weitere gesellschaftliche Schritte, etwa die direkte Demokratie.
Nun will ich aber nicht darauf hinaus, dass in gereiften Gemeinschaften wie dem österreichischen Volk der Nationalismus wieder aufflammen soll, auch wenn unsere Kinder die historische Lehre daraus nicht zu ziehen vermögen, solange sie im Unterricht wertbehaftet ["Nationalismus ist universell schlecht"] vermittelt wird (und nicht wie ich es versuche: Im Bemühen um Objektivität). Ich will viel eher auf den Umstand hinaus, dass es für historisch nicht gewachsene Völker, wie denen des Nahen Ostens oder Afrikas [ehemalige Kolonien!] unabdingbar ist, sich für eine Übergangsphase ein nationalistisches Denken anzueignen um davon ausgehend eine kulturell eigene Prägung zu erhalten. Erst dann kann etwas entstehen, das etwa den Irakern einen Glauben an den Irak gibt, oder Sudanesen einen Glauben an einen Sudan. Erst dann werden von dort kulturelle Spitzenleistungen kommen, die eine Identifikation der Menschen mit ihrem Land, ihrer Nation, ermöglichen.
Es gibt im Hintergrund von all dem nämlich eine destruktive Kraft, die all die tollen Eigenheiten, die Nationen so ausmachen, beseitigen möchte - und ich meine damit nicht den Marxismus. Erst kürzlich habe ich wieder mit einem koranfesten Muslim gesprochen, der den Nationenbegriff fundamental ablehnt. Wer Muslim ist, betrachtet sich in erster Linie als Angehöriger eines Glaubens, nicht einer Kultur; was sich in Ländern mit muslimischer Mehrheit traurig bemerkbar macht. Sämtliche muslimische Staaten kamen erst über säkulare, national denkende Politiker auf den Weg des Aufschwungs. Die Menschen schaffen den Sprung aus der Geringstellung von sich aus nicht über ein Zurückgreifen auf muslimische Errungenschaften (derer es keine gibt) oder ein Vertrauen auf eine Rückhalt versprechende, internationale Glaubensgemeinschaft, sondern aus einem Staatsbewusstsein und einer eigenständigen Kultur, deren Früchte die dringend benötigte Identifikation mit sich bringen.
Nur weil etwa ein Präsident Assad feststellen musste, dass "sein" Land ohne Informationstechnologie in das internationale Hintertreffen geraten wird, hat er vielen von seinen Bürgern eine breite, staatlich finanzierte IT-Ausbildung ermöglicht. Nur weil er den Drang verspürte, den Einwohnern ein Instrument zur kulturellen Entfaltung auf hohem westlichen Niveau in die Hände zu legen, initiierte er 2000 den Damaszener Frühling. In einem Land muslimischer Politiker wäre dergleichen völlig undenkbar gewesen. Von daher erlaube ich mir einen textlichen Ausflug in die aktuelle Syrien-Problematik: Diejenigen, die sich dort zur Sunna bekennen, fühlten sich nie in erster Linie wie Syrer, so wie es sämtliche Minderheiten (Christen, Aleviten, Jesiden, Atheisten etc.) taten. Sie nahmen sich aus der Gesellschaft aus und lehnten sich auf, was schon Hafiz al-Assad dazu trieb aufrührerische Sunniten zu massakrieren. Wenige Jahrzehnte später ist die Bewohnerschaft Syriens wieder im Begriff sich in Syrer und Sunniten zu spalten. In Europa, wo wir eine Selbstdefinition über die Nation für selbstverständlich halten (obwohl wir den Begriff an sich tendenziell ablehnen), behandeln wir alle Flüchtlinge (unabhängig ob Sunniten oder Syrer) wie Syrer. Im Übrigen sagt die Sunna selbst wer Sunnit ist und wer nicht, (anders als bei den Nationen) unabhängig von der Meinung des angesprochenen Individuums - es kommt von daher oft vor, dass koranfeste Sunniten auch solche Sunniten nach der Scharia richten -z.B. enthaupten-, die aus Unkenntnis über den Koran gegen Anweisungen desselben verstießen.
Ein Gegenbeispiel bietet die derzeitige Situation in der Ukraine: Zahlreiche ehemalige Offiziere der Sowjetischen Armee fühlen sich Russland ob der gemeinsamen Dienstzeit mit ihren "russischen Brüdern" verbunden, alleine deren Einfluss machte es für die Extremisten schwer, für den Krieg im Donbass Sympathien in der Bevölkerung auszulösen. Es gelang nie, "den Russen" zum Feindbild aufzubauen oder gar eine landesweite (Gegen-)Bewegung ins Rollen zu bringen -was eben in Syrien geschah- und so desertierten oder verweigerten sich viele der einberufenen Männer, um nicht in einem offensichtlich sinnlosen Krieg sterben zu müssen. Lieber, so macht es den Anschein, würden sie mit den ethnischen Russen in einer gemeinsamen Ukraine leben. Selbst die Russen im Donbass würden lieber, so wie vor der Revolution, gemeinsam mit den Ukrainern in einem Land leben, auch wenn sie das Treiben der Freiwilligenbataillone sehr verschreckte - man kann an diesem Beispiel gut erkennen, dass eine Nation sich viel eher über ein gemeinsames Gefühl definiert, als durch Abstammung. Die ihrer Kultur und Sprache nach russischen Ukrainer hatten jedenfalls nie ein Problem damit, sich als Ukrainer zu bezeichnen.
Was will ich nun mit diesem Artikel aussagen? Ich möchte, dass wir Nationalismen in Entwicklungsländern als notwendige Übergangsstufe akzeptieren - eine, die eine Weiterentwicklung zur logischen Konsequenz hat. Viele Länder mit "einem starken Mann" an der Spitze brauchen diesen richtiggehend, um nicht von, neutral ausgedrückt, expansiven Kräften übervorteilt zu werden [Irak] oder im Chaos zu versinken [Libyen]. Der starke Mann ist dabei nicht Repräsentant des, sondern Garant für einen Nationalismus, da er in aller Regel für Stabilität sorgt und das nationale Miteinander als Keim der Stärke betont. Ein Nationalstaat braucht keinen starken Mann, der starke Mann aber einen Nationalstaat. Ein (junger) Nationalstaat bringt mit der Zeit Kultur hervor, ob er will oder nicht. Erst wenn Kultur aus Unkultur erwächst, kann der Stärkere das Einigende vor das Trennende stellen(!) und eine prosperierende gemeinsame Zukunft einleiten.