Anders als viele Menschen annehmen, ist es für ein heranwachsendes Kind kein Problem in einer religiösen Familie aufzuwachsen - die Welt hat Struktur, zumindest die Diesseitige. Als mir meine Mutter einmal anstelle der üblichen Gute-Nacht-Geschichte von Gott und Jesus erzählte, war ich mit meinen vier Jahren ganz hin und weg von dem Gedanken an ein Paradies. Ein Ort, den man sich nicht vorstellen kann und an dem alles ewig ist. Vor allem "ewig" - der Gedanke daran, dass danach nichts mehr kommen sollte, erfüllte mich damals mit einer tiefen Traurigkeit, auch wenn mir meine Mutter versicherte, dass es im Paradies schöner ist, als es im Diesseits je sein könnte. Auch der Gedanke an den Tod war plötzlich da, und ich realisierte, dass schon ein kleines Unglück mich zum hilflosen Waisen machen könnte. Ab diesem Zeitpunkt war ich meinen Eltern gegenüber nie mehr bösartig, es hätte schließlich das letzte Mal gewesen sein können.
Eine ähnliche, kindliche Logik hat mir auch so manche Offenbarung meines Vaters entlockt: Seine Aussage, dass in Afrika alle zwei Sekunden ein Kind sterben würde, veranlasste mich, gläubig erzogen wie ich mit sieben Jahren schon war, Gott dafür zu danken, in Österreich geboren worden zu sein - es hätte mich ja auch anders treffen können, dann wäre ich womöglich schon wieder tot. Ebenfalls in diesem Alter veranschaulichte mir mein Vater den Effekt des Zinseszinses. Ich war wieder völlig aus dem Häuschen - wenn unser Geldsystem so funktionieren würde, dann möchte ich mein ganzes Leben damit verbringen, Geld anzuhäufen, um am Ende von den Zinsen leben zu können. Meine Kinder (ja, daran dachte ich damals) würden es mir unendlich danken.
Als ich in der zweiten Klasse Volksschule eines schönen Tages von Begriffen wie "Nazi" erfuhr, packte mich wiederum die Neugierde - eine Neugierde, die ich schon zuvor bei Dinosauriern, Flugzeugen, Raketen oder Rittern an den Tag legte. Doch ich spürte, dass diesmal etwas anders sein würde. Dieses Thema war heiß, es anzusprechen ging immer mit einer Ratlosigkeit der Angesprochenen einher. Ein Kind, das mehr über Nazis wissen will. Ich war verwundert und innerlich wütend, als Bekannte meinen Weihnachtswunsch, ein Buch über den Zweiten Weltkrieg, mit "aber das ist doch nichts für ein Kind" kommentierten. In der Büchersammlung meines Vaters wurde ich schließlich fündig: Ein dreiteiliger Weltkriegsband von Janusz Piekalkiewicz musste für meinen Wissensdurst herhalten - die vielen Abbildungen vergrößerten meine Faszination nur noch. Flugzeuge, Panzer, Armeen; ich sah keine Einzelschicksale, die Bilder von Leichen in KZs lösten in mir dieses unbehagliche Gefühl aus, welches immer dann eintritt, wenn man eben echte tote Menschen auf Bildern und Videos betrachtet. Den Tod von Millionen selbst betrachtete ich hingegen mit derselben Distanz, mit der ich an die Hungertoten in Afrika dachte, mit der ich an die toten Philister und Ägypter aus dem Religionsunterricht dachte, oder mit der ich den Zusammenhang zwischen dem fleischhaltigen Mittagessen und dem Schwein, das ich einen Monat vorher noch gestreichelt habe sah. Tot ist tot - beim Gedanken, meine eigenen Eltern einst auf dem letzten Weg begleiten zu müssen, vergoss ich bittere Tränen. Doch es wuchs in mir die Überzeugung, nicht der "verschütteten Milch" nachzutrauern, sondern noch zu Lebzeiten dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst verschüttet wird, wo immer ich die Möglichkeit dazu habe - und dort nicht darum zu trauern, wo ich nichts dagegen tun konnte.
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So wie in Weltkriegsbelangen, wurden meine Fragen auch immer abgewürgt, wenn ich wissen wollte, wie Kinder entstehen. Eine um neun Jahre ältere Schwester als eigene Babysitterin und ein jüngerer Bruder mit spastischer Diplegie ließen meine Fragen zum "Entstehungsprozess" förmlich bohrend werden. "Einander zu lieben", diese Antwort genügte nicht - und all diese verhaltenen Reaktionen gaben mir das Gefühl, einer kleinen Verschwörung der Erwachsenen auf der Spur zu sein. Als ich mit sieben Jahren endlich durch einen Freund dahinterkam, fühlte ich mich, als hätte ich den heiligen Gral entdeckt. Aber ich konnte niemandem davon erzählen - ich wusste bereits, dass viele Dinge tabu sind. Der Zweite Weltkrieg etwa.
Ähnlich reagierte ich, als meine Vermutung zu einer Gewissheit wurde, dass es das Christkind und den Osterhasen nicht gibt. Ich realisierte, dass es meinen Eltern zu blöd werden würde, "das Spiel" zu veranstalten, wenn ich ihnen von meiner Kenntnis darüber erzählen würde - und so freute ich mich darüber, dass sie das alles mir zuliebe veranstalteten und spielte mit.
Ich lernte es, Falschheiten zu verstehen. Als mir von einem eigenartigen Herren Schokolade für das Einsteigen in sein Auto angeboten wurde, suchte ich instinktiv das Weite - noch am selben Tag, als ob sie es geahnt hätte, warnte mich meine Mutter vor solchen Leuten. Nach und nach wurde mir so klar, dass diese Welt eine Welt voller Verrückter ist. Ich begann, an der vorgegaukelten, heilen Welt der vernünftigen Erwachsenen zu zweifeln. Sogar meiner eigenen Volksschullehrerin zweifelte ich den Wahrheitsgehalt ihrer Informationen an. Ich versuchte speziell im Sachunterricht, alles zu überprüfen und meine Lehrerin bei Fehlern zu ertappen.
So erhielt ich schnell einen Ruf als schwieriger Schüler, obwohl meine Noten durchwegs glänzten und ich als "begabter Schüler" eine Empfehlung für das Gymnasium erhielt. Meine liebgewonnenen Freunde bedeuteten mir jedoch mehr und die Überzeugung meines Vaters, an der örtlichen Hauptschule dieselben Chancen für später zu erhalten, wie im Gymnasium, besiegelten diesen Plan. In der Volksschule freute ich mich wahnsinnig, in die Hauptschule zu kommen, und "endlich alles Interessante" zu lernen. So, wie ich mich im Kindergarten immens auf die Volksschule freute. Dort wurde ich im Übrigen schon in der ersten Woche über die Maßen enttäuscht: Die erste Hausaufgabe war es, Tannen die Nadeln aufzumalen - es waren viele, und ich wollte sie quasi wie lebensechte Bäume hinbekommen. Der stundenlange Aufwand, das Versäumnis eines schönen Nachmittages und der geringe Lohn ließen mich einmal mehr Tränen der Wut und Verzweiflung vergießen - das konnte doch nicht die Schule sein, auf die ich mich so sehr gefreut hatte. Noch niederschmetternder war der erste Monat in der Hauptschule: Bei der Einstufungsschularbeit wurde in Englisch eine ganze Seite übersehen, ich wurde in die 3. anstatt in die 1. Leistungsgruppe eingestuft. Als das Malheur aufgedeckt wurde, kam ich nicht in die 1., sondern in die 2. Leistungsgruppe - als ob es einen Kompromiss geben müsste. Sieben Lehrerwechsel in den ersten zwei Jahren machten ein Aufsteigen unmöglich, denn alle wollten mich erst kennenlernen. Die letzten Jahre über hatte ich einen Lehrer, der aus Prinzip niemanden aufsteigen ließ, völlig egal wie sehr so manche Schüler, mich mit eingeschlossen, sich darum bemühten.
Noch schlimmer wog, dass Schummler und Desinteressierte bessere Noten "geschenkt" bekamen, als ich, der noch immer im Bestreben, alles zu hinterfragen, eine ungeheure Mitarbeit an den Tag legte - ich wurde völlig zynisch, merkte mir weder Datum noch Stoffumfang von Tests und erledigte nur noch Hausübungen, die ich machen wollte, oder unbedingt machen musste. "Das sind doch nur Noten" gab ich meinem Vater im Alter von zehn Jahren zu verstehen. Zahlen auf Papier, unfähig, einen Menschen zu beschreiben.
Dass mir mein Umfeld zu verstehen gab, dass etwas an mir klug und wissend war, gab mir stets das Gefühl, irgendetwas doch richtig zu machen. Ich lernte aus Eigenantrieb das, was ich jeweils wissen wollte - oft mit dem Glück, zufällig das zu lernen, was nur kurze Zeit später in der Schule unterrichtet wurde. Die Diskussionen mit meinen Lehrern wurden so immer länger und tiefgängiger. Wenn mir eine Einheit zu langweilig wurde, erdreistete ich mich oft, durch eine, oftmals rhetorische Einleitungsfrage, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, in der ich die Aufmerksamkeit meiner Lehrer praktisch völlig vereinnahmte. Dabei wollte ich mich nicht bei meinen Freunden unbeliebt machen, und so stellte ich mich gerne auf hohem Niveau dumm - sich auf niedrigem Niveau dumm zu stellen, wäre bloß nervenaufreibend gewesen.
Ich bemerkte in der Folge, dass man viele Lehrer durch Fragen in die Ecke drängen kann, und begann, diese als schlechte Vorbilder auszusortieren und ein Lernen bei ihnen zu verweigern. Bis hinauf zu meiner Maturaklasse gab es so Fächer, die mich an sich brennend interessierten, in denen ich jedoch zu keiner Leistung unter einem schwachen Lehrer bereit war.
Mein Kenntnisstand über menschliches Verhalten gebot mir dennoch, all diese Menschen mit Achtung zu behandeln - unterbewusst war mir klar, dass man nur solche Menschen mit Fragen in eine Ecke drängen konnte, die selbst an einem Punkt aufgehört hatten, Fragen zu stellen. Unangenehme Fragen. Es waren dies Menschen, die wohl als Kind aufgehört hatten "nach dem Weltkriegsbuch an Weihnachten zu verlangen" als ihnen ihr Umfeld zu verstehen gab, dass dieses Wissen eben nichts für sie sei. Und so gibt es Wissen, das nichts für sie ist. Wissen, nach dem man nicht verlangt, weil man es nicht darf, weil man damit nicht richtig umgehen könnte.
Ich habe, bei aller Wertschätzung der Person selbst, beinahe schon ein sadistisches Vergnügen darin gefunden, diese Menschen mit Wissen zu konfrontieren, mit dem sie nicht richtig umgehen können würden. Die Erkenntnis, das bereits antike Philosophen genauso über ihr Umfeld drüberfuhren, bestätigte mich darin, damit nichts Unmoralisches zu tun. Sowie ich eine politische Absicht hinter der Unterrichtsgestaltung eines schwachen Lehrers entdeckte, spielte ich immerzu das "Christkind-Spiel", in der Absicht, das Bestreben nach meiner Vorstellung zu manipulieren, und mitunter sogar in der Absicht, den Mitgliedern der Klasse "meine Version" des Wissens mitzugeben.
Andere Menschen, die, die den Fragen niemals auswichen, wurden meine willkommenen geistigen Begleiter - den insgesamten Mangel an geistiger Substanz, der sich hinter der Informationsflut in der Bildungsmühle verbarg und verbirgt, versuchte ich erfolgreich durch das Lesen von Schriften großer Denker und Lenker des zivilisatorischen Wohlergehens zu kompensieren. Ich begriff, dass all das gesammelte Wissen völlig wertlos ist, wenn man daraus nicht eine eigene Überzeugung ableiten kann. Eine Überzeugung, zu der man stehen kann, komme was da wolle. Etwas, das einen selbst bewegt. Etwas, das hinter all den Informationen und Erfahrungen wie ein verborgener Kern ruht. Etwas, das einem das Leben sagen möchte. Etwas, das universell gültig ist.
Was ist nun die Moral der Geschichte? Es ist die Erkenntnis, dass man Kindern nichts, aber auch gar nichts aufbinden sollte. Kinder lieben es, fehlende Inhalte durch ihre Phantasie zu ersetzen - aber sie erwarten sich auch, von Erwachsenen die Wahrheit zu hören. Märchen, Sagen und religiöse Geschichten sind für ein Kind klar als solche erkennbar - dies ist das Reich der Phantasie. Ein Erwachsener macht sich noch nicht zum Lügner, wenn er es mitgestaltet und ausschmückt. Es ist herzlos, einem Kind den Zauber des Mystischen dieser Welt zu nehmen. Aber wenn man die Realität zu einem solchen Ort macht, Dinge verklärt oder Kinder mit Halbwahrheiten abkanzelt, dann erzieht man sie zu Menschen, deren zerbrochene Vorstellungen sie früher oder später an der Welt zerbrechen lassen. Das Ergebnis kann über Wut und Hass auf die Welt, Autoaggression bis hin zur Depression alles Mögliche sein - die Schuld für solche "Äußerungen" gibt man dabei dem Menschen, der sie äußert und nicht denen, die für das Entstehen dieser Äußerungen verantwortlich sind, indem sie den Betroffenen letztlich täuschten und von sich selbst ent-täuschten. Kinder vertragen die Wahrheit, und wir sind sie ihnen schuldig!