EinBrief an Alle, die es angeht. Michael Fink über die unerträgliche Scheinheiligkeit im öffentlichen Diskurs am Beispiel von zwei Fotos und vieler Medien.
Die Aufregung war tagelang schier grenzenlos. Vom "Leichenfoto/Jeanée-Blatt" war die Rede. Über den Herausgeber dieser Zeitung, Dr. Christoph Dichand, schrieb eine andere selbsternannte moralische Instanz des österreichischen Medienwesens "Krone-Chef Christoph Dichand verdient sein Geld mit Hetzkolumnen, Leichenfotos und Inseraten der Republik Österreich und der Stadt Wien". Und weiter - "einfach nur erkennen, womit er geschäfte (sic) macht, mit leichenfotos (sic)". Oder auch - bizarrerweise von einer leitenden Persönlichkeit eines Boulevard-Mediums: "Respekt zeigt man, wenn man Gesichter oder tote Kinder nicht zeigt."
Damals, vor wenigen Tagen, war die Welt noch einfach und überschaubar. Das unfassbar Böse, die Neue Kronen Zeitung, hatte zu einem weiteren Schlag gegen die Zivilgesellschaft ausgeholt. Das Blatt hatte ein Polizeifoto veröffentlicht, das tote Kriegsflüchtlinge in einem LKW auf der A4 nahe dem burgenländischen Parndorf zeigt. Ein - wie es hieß - "Tabubruch" sondergleichen. Und (was alles noch schlimmer, ja eigentlich kriminell machte) die Neue Kronen Zeitung hatte dieses Foto möglicherweise von den Behörden "zugespielt" bekommen. Man stelle sich vor: ein Medium bekommt etwas zugespielt! Dass deshalb das umgehende Einschreiten der zuständigen Staatsanwaltschaft vom juste Milieu der österreichischen gerne veröffentlichten Meinung gefordert wurde, war selbverständlich unabdingbar. So ging es ja auch wirklich nicht. Auflage machen vom Jeanée-Blatt mit einem Foto, das Tote zeigt. Noch dazu Flüchtlinge. Noch dazu Kinder.
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Am 3. September 2015 war dann plötzlich alles ganz anders. Da hatten nämlich die gottgleichen, zumindest aber gottähnlichen Leitmedien des politisch korrekten österreichischen Journalismus ein Foto veröffentlicht. Nahezu alle auf der Titelseite. Ob Le Monde, ob Libération, ob The Times oder der Guardian - dem Foto eines kleinen Buben, der tot am Strand des Mittelmeeres angespült wOrden war, konnten - um es einmal freundlich auszudrücken - allesamt nicht widerstehen.
Aber was für ein Unterschied in der Behandlung der Fälle. Jetzt ging es plötzlich um das Aufrütteln von Politikern. Jetzt heiligte der Zweck plötzlich die Mittel. Wenn nicht Dichand oder Jeanée involviert sind, ist der "Respekt" vor toten Kindern auf einmal zweitrangig. Wenn die heiligen Kühe bestimmter österreichischer Medienvertreter das exakt gleiche machen, wie die Neue Kronen Zeitung - ja dann ist es plötzlich willkommenes Wachrütteln von Politikern. Die Würde des toten Kindes - eine Art Kollateralschaden zur höheren Ehre des Guten. So weit so einfach: wenn es um das "Gute" geht, dann ist den "Guten" jedes Mittel recht. Dann ist das "Gute", sind die "Guten" gnadenlos
Dann schafft man es auch das Rückgrat zu verbiegen, bis es einem doppelten Seemannsknoten gleicht. Dann kommt es plötzlich "nicht nur auf das Bild an, sondern wer es in welcher Absicht verbreitet." Dann kommt es "auf die zeitungen (sic) und den kontext (sic) und die absicht (sic) an". Denn der Neuen Kronen Zeitung nimmt man, ganz im Bewusstsein selbverständlich auf der einzig richtigen Seite zu stehen, den "asyl-humanismus" (sic) einfach nicht ab".
Das logische Problem ist offenkundig. Keiner der zitierten Journalisten kann wissen, aus welchen Beweggründen gehandelt wurde. Keiner kann wissen, welche Politiker von welchen Fotos "aufgerüttelt" werden. Manche von dem toten Kind, andere wiederum von 71 qualvoll erstickten Menschen.
Keiner hat daher das Recht zu urteilen. Was den besonderen Fall bemerkenswert macht ist jedoch die Tatsache, dass sich auch Menschen, die davon leben, dass ihnen Material von Beamten zugespielt wird, die sich beruflich also in einem rechtlichen Graubereich befinden, sich darüber erregen, dass jemanden ein Foto zugespielt wurde.
Ich klage daher jene österreichischen Medienvertreter, die sehr genau wissen, dass sie betroffen sind, an. Ich klage sie an, trunken vor Scheinheiligkeit in Selbstgerechtigkeit zu versinken. Ich klage sie an, dass sie dies - trotz der entsprechenden Ausbildung - nicht bemerken wollen. Ich klage sie an, ihren Beruf nicht verantwortungsbewusst auszuüben.
Und ich bedanke mich posthum beim großen französischen Literaten Émile Zola für den Titel, den ich mir von ihm entlehnt habe.