Warum die sympathische Erzählung Christian Kerns über seine einfache Herkunft das Gegenteil von dem bewirken könnte, was seine Personal Shapers beabsichtigt haben

Vor einiger Zeit hat der SPÖ-Vorsitzende und Bundeskanzler Christian Kern ein Video veröffentlicht, das von seiner Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen aus dem traditionellen Wiener Arbeiterbezirk Simmering berichtet (https://www.facebook.com/Sozialdemokratie/videos/816584515163526). Wir erfahren von seinen jugendlichen Anfängen, die alles andere als einfach waren: die Mutter hat sich „einen Haxn ausgerissen“, auf dass es dem kleinen Christian einmal besser geht. Und der hat die Chance ergriffen, ist die soziale Stufenleiter konsequent hinaufgestürmt und versteht sich heute mit Angela Merkel und Papst Franziskus als führende Global Players auf Du und Du.

Er sei mit den Fernsehbildern Bruno Kreiskys aufgewachsen, erzählt Christian Kern. Mit dessen Anspruch auf umfassende Chancengleichheit verweist er noch einmal auf ein gesellschaftspolitisches Reformprogramm, das vor allem den Beginn der sozialdemokratischen Alleinregierung ab 1970/71 getragen hatte. Und ja, ein nostalgischer Blick in die Dokumente macht deutlich, dass die Übernahme der Regierungsverantwortung der SPÖ verbunden war mit der Hoffnung, die überkommenen Klassenschranken zu überwinden, um mit einem Bündel an sozial- bildungs-, familien- oder rechtspolitischen Maßnahmen – eine umfassende Vermittelständigung der österreichischen Gesellschaft herbeizuführen. Ermöglicht durch ein stetiges Wirtschaftswachstum sollte die Umverteilung sowohl materieller als auch ideeller Güter („Kultur für alle“) die Chancen für alle bislang Benachteiligte nachhaltig erhöhen und zu einer solidarischeren und gerechteren Gesellschaft führen. Die im sozialpartnerschaftlichen Korsett gut eingebetteten Konservativen ließen sich ihre politische Demütigung solange gefallen, solange es für alle genug zu verteilen gab.

Wenn sich Christian Kern 2017 in seinem Video-Selfi noch einmal auf Kreiskys Reformpolitik bezieht so ist das dank seiner eigenen Erfolgsgeschichte nur zu verständlich. Immerhin ist er ein geradezu idealtypischer Nutznießer der sozialen Integrationspolitik der SPÖ-Alleinregierung. Er reiht sich dabei ein in eine Reihe von AufsteigerInnen, die es wie er aus depravierten Verhältnissen heraus geschafft haben, führende Positionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft einzunehmen.

Sind die Aufsteiger von gestern die Sozialverräter von heute?

Irreführend wird die Geschichte, wenn diese Erinnerung an eine politische Strategie gesellschaftlicher Harmonisierung an den Ausläufern der Nachkriegszeit unberücksichtigt lässt, dass sich die gesellschaftspolitische Großwetterlage mittlerweile grundlegend geändert hat. Man muss nicht so weit gehen wie der französische Soziologe Didier Eribon, der in seiner Autobiographie „Rückkehr nach Reims“ den Aufsteigern der 1970er Jahren umfassenden Sozialverrat vorgeworfen hat, weil sie als mittlerweile abgehobene Figuren jeden Kontakt mit den Mitgliedern des sozialen Milieus verloren hätten, dem sie selbst angehören (Dieser Einschätzung anhand der zunehmend nepotistischen Verhältnisse etwa in der SPÖ-Wien genauer nachzugehen, wäre sicher ein lohnendes Unterfangen).

Entscheidender ist möglicherweise der Befund, dass die sozialdemokratischen Reformbemühungen spätestens in den 1990er Jahren an ihre Grenzen gekommen sind. Alle sozialwissenschaftlichen Analysen deuten darauf hin, dass die geänderten Machtverhältnisse innerhalb einer transnational organisierten Ökonomie (und Finanzwirtschaft) die sozialen Differenzen nicht verringern sondern zunehmend verstärken. Demgegenüber erscheint jedwede nationale Politik immer weniger in der Lage zu sein, den desintegrativen Konsequenzen erfolgreich entgegen zu wirken. Wohl wenig überlegt hat Christian Kern in einem anderen Video darauf Bezug genommen, wenn er sich selbst als Pizza-Bote verkleidet, der fast idealtypisch die Rückkehr prekärer Beschäftigungsverhältnisse repräsentiert (Der Historiker und Germanist Christoph Bartmann hat dazu in „Die Rückkehr der Diener – Das neue Bürgertum und sein Personal“ (https://www.perlentaucher.de/buch/christoph-bartmann/die-rueckkehr-der-diener.html) einiges zu erzählen.

Die Menschen haben den Glauben an den individuellen Aufstieg verloren

Das spezifisch politische Problem, das damit angesprochen wird, liegt weniger im Umstand, dass es nach wie vor benachteiligte Menschen gibt, die es ganz offensichtlich in den letzten 40 Jahren nicht geschafft haben, aufzusteigen. Es liegt vor allem darin, dass sie nach all den Jahren zunehmend selbstläufigen sozialdemokratischen Regierens in ihrer Mehrheit nicht mehr daran glauben, es Christian Kern noch einmal gleich tun zu können um doch noch aufzusteigen. Ihnen fehlt zunehmend das Vertrauen in die Politik, diese könnte ihnen mit dem bestehenden Instrumentarium ausgerechnet jetzt den Weg zu mehr Chancengleichheit verhelfen. Stattdessen begeben sie sich mit ihren rechtspopulistischen Einflüsterern lieber auf die Suche nach den Schuldigen, die ihnen in Gestalt von Migranten und Flüchtlingen einen Platz bestenfalls am Rande der Gesellschaft zuweisen würden.

Die SPÖ der 1970er Jahre stand für das Ende einer unversöhnlichen Klassengesellschaft, in der Absicht, auch den bislang abseits stehenden ArbeiterInnen den Weg in die bürgerliche Mitte zu weisen. Heute finden wir uns wieder in einer vielfach sozial, ethnisch, kulturell, religiös und nach unterschiedlichen Lebensstilen (Konsumverhalten) aufgesplitterten Gesellschaft, hinter der sich zunehmend deutlich wieder die Fratze der Klassentrennung zeigt („Mit Leistung lässt sich heute kein Wohlstand mehr erwerben“).

Die bürgerliche Mitte in der Defensive

In dieser unübersichtlichen Gemengelage beansprucht nach wie vor ein alter sowie mit Christian Kern ein neuer Mittelstand seine hegemoniale Position. Und doch erscheint er in seiner traditionellen Funktion als Träger gesellschaftlicher Prosperität zunehmend verunsichert. So sehr die sozialwissenschaftlichen Einschätzungen über Umfang und Entwicklungstrends auseinander gehen, gemeinsam ist seinen VertreterInnen eine zunehmend defensive Haltung, die es gilt, angesichts der Widernisse einer „Abstiegsgesellschaft“ (https://www.perlentaucher.de/buch/oliver-nachtwey/die-abstiegsgesellschaft.html) gegenüber den Nachkommenden einzunehmen.

Als die Begünstigten der Vermittelständigung der 1970erJahre sieht es die neue Machergeneration heute als ihre vorrangige Aufgabe, ihre wohlerworbenen Privilegien um fast jeden Preis zu verteidigen, in der Hoffnung, damit dem drohenden Abstieg zu entgehen. Dass sich damit, ursprünglich zugunsten wachsender sozialer Gerechtigkeit eingeführte sozial- und kulturpolitische Maßnahmen zunehmend in ihr Gegenteil verkehren, wenn sie neuen Anspruchsgruppen (vor allem jungen Menschen) den Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Errungenschaften erschweren oder gar verunmöglichen, nehmen sie als unvermeidlich in Kauf. Damit tragen sie zur schleichenden Entsolidarisierung auch der österreichischen Gesellschaft bei und schaffen Realitäten, die Kreiskys Intentionen fundamental entgegen wirken.

Der deutsche Rechtswissenschafter Christoph Möllers hat in der jüngsten Ausgabe des Fachjournals Merkur 818 mit dem Titel „Wir, die Bürger(lichen)“ (https://www.perlentaucher.de/buch/oliver-nachtwey/die-abstiegsgesellschaft.html) noch einmal auf einen spezifischen Aspekt der Vermittelständigung seit den 1970er Jahren hingewiesen. Dieser besteht in einer wachsenden Institutionengläubigkeit insbesondere einer bürgerlichen Mitte, die darauf gerichtet war, mit der Implementierung formalisierter Abläufe ihre sozialen Dominanzansprüche befestigen zu können. Dieser Form der Rationalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurde eine weitgehende Politikimmunität zugesprochen, in der Hoffnung, immer weitere Teile der gesellschaftlichen Organisation auf rationale Grundlagen und damit frei von unmittelbarer parteipolitischer Einflussnahme stellen zu können. Umso erstaunlicher muss es heute für viele Bürgerliche erscheinen, wenn in Ungarn, Polen oder in der Türkei von erstarkenden Kräften eine unmittelbare politische Einflussnahme auf bewährte Institutionen (siehe die aktuellen Auseinandersetzung über die Unabhängigkeit der Justiz in Polen) wieder offensiv eingefordert wird, ohne dass eine weitgehend entpolitisierte bürgerliche Mitte noch einmal in der Lage wäre, offensive Gegenstrategien zu entwickeln.

Was heißt denn da Solidarität? – Und überhaupt: Um wen geht es denn?

Gegen Ende des Videos appelliert Christian Kern anhand seiner eigenen Lebensgeschichte an die Bereitschaft zu solidarischem Handeln, wenn die Starken gefordert sind, zugunsten des sozialen Zusammenhalts den Schwachen zur Seite zu stehen. Geht es nach obigen Tendenzen, dann wird er sich sowohl bei den Starken, die um ihre Privilegien fürchten als auch bei den Schwachen, die nicht mehr an die Wirksamkeit traditioneller Politik glauben, schwer tun, Gehör zu finden. Dazu kommt ein in den 1970er Jahren noch undenkbares Ausmaß an internationaler Verflechtung Österreichs, dessen Selbstmythisierung als „Insel der Seligen“ zunehmend obsolet wird. Stattdessen stellen sich Fragen der Solidarität zunehmend auch und gerade auf europäischer (Stichwort „Europäische Sozialunion“) und internationaler Ebene, die zum Teil völlig neue Ansprüche an politisches Handeln erzwingen.

Kreisky wusste um die herausragende Bedeutung des Außenministeriums – heute nutzt es ein konservativer Jungspund haltlos zur eigenen Profilierung

Auch hier könnte Christian Kern unschwer Anleihen bei seinem Vorgänger Kreisky nehmen, dem es ein zentrales Anliegen war, Österreich als einen starken außenpolitischen Akteur zu positionieren. Manche erinnern sich vielleicht noch, dass es ausgerechnet die Überlassung des Außenministeriums an die ÖVP war, die Bruno Kreisky 1986 dazu bewogen hat, sich im Zorn von seiner Partei abzuwenden und seinen Ehrenvorsitz abzugeben. Heute lebt dort ein junger Konservativer seine „geschniegelte Inhumanität“ (Günter Traxler) aus, in der Hoffnung, mit markigen Sprüchen (z.B. in Form der Drohung der militärischen Schließung der Brenner-Grenze) zur weiteren Entsolidarisierung der europäischen Gesellschaften Christian Kern seine Position als Bundeskanzler streitig zu machen.

So sehr Sebastian Kurz damit auf grassierenden Stimmungslagen aufsitzt so wenig wird es der SPÖ erspart bleiben, noch einmal zu analysieren, wieso das sozialdemokratische Reformprojekt auf halber Strecke stecken geblieben ist, was ab einem gewissen Zeitpunkt falsch gelaufen ist und welche Lehren sich daraus ziehen lassen. Wir kommen um den Befund nicht herum, dass es sozialdemokratische Regierungen waren, in denen sich die Hoffnungen auf umfassende soziale Integration verflüchtigt und bereits überkommen geglaubte Formen der sozialen Segregation durchgesetzt haben.

Vieles spricht dafür, dass es vor allem die neu entstandenen „renitenten Unterschichten“ sind, die die kommenden Nationalratswahlen entscheiden werden. Im Kampf um deren Stimmen sind Rechtspopulisten klar im Vorteil. Ihre Herangehensweise vermittelt noch einmal die sinnliche Kraft und Unmittelbarkeit von Politik, in der Leidenschaften und Aggressivität gegenüber dem Gegner regieren. Im Vergleich dazu können Aufsteiger wie Christian Kern ihren Körper beim Laufen noch so zu stählen versuchen; bei Versuchen, „den anderen lustvoll in die Goschn zu hauen“ können die in die Jahre gekommenen VertreterInnen eines SPÖ-Establishments nicht mithalten. Sie sind auf ihr alternativloses Vertrauen in die Beibehaltung politischer Rationalität angewiesen.

Was aber hat dann die SPÖ unter Christian Kern all den Gruppen, die drauf und dran sind, die bürgerliche Mitte zu verlassen bzw. nie dort angekommen sind anzubieten? Ich fürchte, nette Gschichtln aus den 1970er Jahren triefend vor „Wir werden es schaffen, wenn wir uns nur genug anstrengen“ werden nicht ausreichen. Und auch die halbherzige Anbiederung an rechtspopulistische Spaltungsversuche samt wutbürgerlicher Transformation des öffentlichen Diskurses werden nicht die notwendigen Stimmen bringen. Bleibt der Versuch, unter Aufgabe jeglicher politischer Inhalte den Schönheitswettbewerb der Spitzenkandidaten zu gewinnen.

Eine Partei ohne überzeugenden Entwurf für ein gedeihliches Zusammenleben erschöpft sich in der Erinnerung ihrer (besseren) Vergangenheit

Meine Schlussfolgerung: Ganz ohne eine Neugestaltung der ideologischen Grundlagen auf der Höhe der Zeit („Neue Formen des Zusammenlebens in einer auf Vielfalt beruhenden Gesellschaft“, „Abbau von Bildungsbenachteiligung“, „Zukunft der Arbeit“, „Gemeinwohl-Ökonomie“, „Zukunft des Wohlfahrtsstaates“, „Digitalisierung aller Lebensbereiche“, „Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit“, um nur einige Stichworte zu nennen) wird es nicht gehen, wenn ein Elektorat noch einmal für den gemeinsamen Kampf um die Realisierung nachvollziehbarer und lohnenswerter Zukunftsentwürfe gewonnen werden will. Das wäre die zentrale Voraussetzung, um einem entpolitisierten Mittelstand noch einmal politisches Feuer einzuhauchen, um ihn dafür zu rüsten, der gegenwärtigen Massenproduktion von Feindbildern für eine mit Ressentiment geladenen Mehrheit rechts der Mitte eine überzeugende Alternative entgegen zu setzen.

In Ermangelung einer solchen Grundlage aber verkommt der nette Versuch, mit Hilfe von Remakes von schönen Bildern aus der Kreisky-Zeit die gute alte Zeit nochmals zu beleben, zu einer Steilvorlage für die Zerstörer der politischen Institutionen, die ihr Handwerk zunehmend professionell beherrschen. Sie sehen darin in erster Linie eine ergiebige Zielscheibe, wenn es darum geht, die Aufsteiger von gestern als Verräter von heute zu denunzieren.

Manfred Werner - Tsui

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Gerhard Novak

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