Das Buch von Natascha Wodin „Altern, fremdes Land“ beginnt mit der Wahrnehmung von Veränderungen am, besser im eigenen Körper:
„Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei einer der ganz gewöhnlichen kleinen Unpässlichkeiten, die kamen und genauso schnell wieder gingen. Mal hatte man einen guten Tag, mal einen schlechteren, das war normal. Aber auch am nächsten Morgen, sie hatte lange und tief geschlafen, fühlt Lea sich nicht besser, und eine Woche später immer noch nicht. Fast alles, was bisher beiläufig und fast wie von selbst gegangen war, forderte jetzt zwar keine große, aber doch fühlbare Kraftanstrengung. Das Aufstehen vom Bett oder von einem Stuhl, das Ankleiden, selbst das Zähneputzen und das Kämmen … Es war, als müsse sie bei jedem Schritt irgendeinen unsichtbaren Widerstand überwinden, eine rätselhafte Kraft, die sich ihr ständig von außen entgegenstellte und sie an der Bewegung hindern wollte.“
Ja, Altern ist nichts für Feiglinge, und es erfordert Kraft, sich gegen die Wirkungen des eigenen physischen Verfalls zu stemmen. Wodin erzählt eine ebenso anrührende wie schonungslose Geschichte des Ankämpfens gegen den Sog von Alterseinsamkeit, das im Wesentlichen darin besteht, sich eingefahrenen Zuschreibungen zu verweigern und sich den Zumutungen des Lebens noch einmal auf neue Weise auszusetzen.
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Obwohl Wodin das Leben einer Frau nachzeichnet, die sich jenseits der 60 ihren Wünschen und Sehnsüchten aussetzt, hat mich der Roman als Mann sehr berührt. Das hat wohl in erster Linie mit meinem eigenen Alter zu tun, dessen Symptome den Anfangszeilen durchaus entsprechen.
So wird es nicht weitergehen
Es hat mich ein Alter erreicht (immerhin habe ich es nicht aktiv vorangetrieben), an dem das Wissen unabweisbar wird, dass es so nicht weitergehen wird. Gar nicht, weil die Umstände Änderungen erzwingen (das auch), sondern das Leben selbst eine Änderung erfährt. Das bedeutet zuerst einmal ein Nicht-Wahrhaben-Wollen; dann ein Erschrecken, schon so weit im Leben fortgeschritten zu sein. Und irgendwann hoffentlich auch ein Gefühl der Befreiung aus als bislang unveränderbaren Zwängen.
Die Versuchung ist erst einmal groß, zurückzublicken. Unglaublich, wie schnell ein Leben dahingeht. Was alles passiert ist, die vielen Irrwege; das, was gelungen ist und was nicht; das, was mich spüren lässt, dass es schon irgendwie stimmig ist, gerade dieses Leben zu führen; und das, was mich hoffentlich am Ende wird sagen lassen, dass es als Ganzes Sinn gemacht hat. Dazu gehört auch das Gefühl, wohl eher zufällig in eine historische Ausnahmesituation geraten zu sein, ein Leben in Frieden führen zu dürfen und damit persönlich z.B. keinerlei kriegerischen oder anderweitig existentiell verunsichernden Auseinandersetzungen ausgeliefert gewesen zu sein. Dieses unverdiente Geschenk wird mir umso eindrücklicher bewusst, als gerade in diesen Tagen mehr und mehr Menschen in und rund um das (noch) geeinigte Europa das nicht von sich sagen können (für mich jedenfalls der eklatanteste Beleg für die Notwendigkeit einer solidarischen Grundhaltung all denen gegenüber, denen aus ebenso unverdienten Gründen ein unvergleichlich schwierigeres Leben auferlegt ist).
Dazu durfte ich mich beruflich mit Themen auseinandersetzen, die viel mit mir und meinen eigenen existentiellen Widersprüchlichkeiten zu tun haben, um auf diese Weise nie zu der einen, einzig richtigen Lösung zu finden, stattdessen zu immer neuen Betrachtungsweisen und Einsichten.
Ohne die grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Problemlagen meiner Jugendjahre kleiner machen zu wollen, so war ich doch begünstigt von Vorstellungen eines umfassenden Reformoptimismus, der einer ganzen Generation eine offene Zukunft versprochen hat, in der alles nur besser werden könnte. Eine darauf basierende positive Weltsicht hat, bei allen persönlichen Verstrickungen und Verunsicherungen, mein bisheriges Leben bestimmt (und wird wohl auch für den Rest nicht völlig abzugewöhnen sein). Daraus ergibt sich – hoffentlich nicht nur für mich – eine ganz besondere Verantwortung für eine heutige junge Generation, deren Lebensgefühl davon beträchtlich abweicht, wenn sie in immer knapperen Abständen mit Energie raubenden apokalyptischen Szenarien konfrontiert sind.
Lebenslanges Lernen an den gesellschaftspolitischen Verhältnissen
Für mich ist es schwierig (aber nicht zu ändern), just zum Zeitpunkt spürbar abnehmender physischer Gegenkräfte zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass ich nicht mehr auf einer Welle des unbedingten Fortschrittsoptimismus surfen kann, wie ich es in meiner Jugend gelernt habe. Angesichts des geänderten, zunehmend destruktiven gesellschaftspolitischen Klimas, das mittlerweile tief in alle Poren des Zusammenlebens gedrungen ist, muss ich mich ganz offensichtlich noch einmal neu aufstellen. Auch ich komme – auf meine alten Tage und nicht ganz den ökonomischen Intentionen entsprechend – offenbar um den Auftrag der Europäischen Union, lebenslang zu lernen, nicht herum, wenn es darum geht, mich auf neue Weise den aktuellen Gegebenheiten auszusetzen, mich zu engagieren, ja wenn es sein muss, auch zu radikalisieren, um eine mir entsprechende Antwort zu finden auf das, was sich da an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen rund um mich abzeichnet.
Die natürliche Regung wäre, das eigene Sacherl ins Trockene zu bringen und für den Rest meiner verbleibenden Zeit, wie es so schön heißt, bei allen zunehmenden Einschränkungen möglichst zu genießen. Dagegen spricht freilich die unvermeidlich damit einhergehende Idiotisierung, die vermeint, sich mit zunehmendem Alter von den Fährnissen der Verhältnisse verabschieden und doch für sich weiter auf sinnstiftende Weise existieren zu können. Immerhin scheinen sich – bis auf wenige Ausnahmen – Einsamkeit und Genießen auszuschließen.
Abschiede – mitzunehmen gibt es nichts
Und doch komme ich mit dem zunehmenden Bedürfnis, mich mit dem Altern zu beschäftigen (beim „Altern“ geht es mir wie mit der „Kultur“ – es ist das Explizitmachen des jeweiligen Begriffs, das erst auf ein Problem hinweist) um den Umstand mannigfachen Abschiednehmens nicht umhin. Manche werden mir aufgezwungen (z.B. Wodin folgend von einem selbstverständlichen Körpergefühl), über manche kann ich selbst entscheiden. Dazu gehört u.a. auch die Einsicht, dass ich auf der so oder so stattfindenden Fahrt über den Styx nichts mitnehmen kann. Das betrifft nicht nur materielle Dinge, es betrifft auch die Erinnerung an sich selbst, die sich spätestens dann als eine, wenn auch zu Lebzeiten existentielle Illusion erweisen kann.
Auch wenn der Essayist Franz Schuh, der selbst gerade 70 Jahre alt geworden ist, in der letzten Sendung von „Café Sonntag“ gemeint hat, Altern wäre Sitzen auf Koffern, weiß ich nicht, was ich in die Koffer packen, mehr noch wohin ich diese Koffer auf dem Weg aus der eigenen Endlichkeit tragen soll. Seinem Bild entgegen bietet Altern für mich die Möglichkeit, sich mit dem Tatbestand der permanenten Veränderung und damit des Werdens und Vergehens von Welt als Lebensvoraussetzung schlechthin auseinanderzusetzen. Ich habe mich an anderer Stelle mit dem Tod als einem zentralen kulturellen Wert beschäftigt. Meine damaligen Gedanken bringen mich notwendig zur Einsicht, dankbar für das eigene Altern sein zu dürfen. Klar wäre ich gerne nochmals jung und doch kann ich die Vorstellung, auf ewig Koffer von hier nach dort zu schleppen, nur als eine infernalische Strafe verstehen.
Leben bedeutet Unvorhersehbarkeit bis zum Ende – und die Kunst ist der beste Wegweiser
Also ist es besser, sich rechtzeitig von diesen Koffern zu verabschieden und sich nochmals frei zu machen für das, was das verbleibende Leben in seiner ganzen Unvorhersehbarkeit bereithält. Und es als ein unverdientes, weil privilegierendes Glück zu empfinden, dem Leben – so lange es halt währt – trotz zunehmender Beschwernisse offen und neugierig entgegen treten zu können – insofern wir uns dafür entscheiden.
Gerade in einer Zeit, in der populistische Extremisten uns glauben machen wollen, Offenheit und Neugierde gegenüber der ganzen Vielfalt menschlicher Existenz sei von Übel, gibt es für mich kein anderes Medium als die Kunst, die mir den Blick auf das Unerwartete bzw. Unerwartbare offenhält. Das setzt freilich voraus, sich dieser Form der Unerwartbarkeit am eigenen Leib auch im Alter auf immer neue Weise auszusetzen, ja sie als das eigentliche Lebenselixier zu begreifen, ohne dass der Tod bereits mitten im scheinbar vorhersagbaren Leben überhandnimmt.
Als einer, der eine viel größere Angst vor dem Tod hat, als er sich selbst eingestehen will, nehme ich mir als ein weiteres Altersprojekt vor, Epikurs Gedanken, der Tod würde uns in keiner Weise betreffen, durchzudenken:
„Alles Gute und Üble liegt in der Wahrnehmung; der Tod aber bedeutet, der Wahrnehmung beraubt zu werden. Daher lässt uns die rechte Erkenntnis, dass der Tod uns in keiner Weise betrifft, die Endlichkeit des Lebens genießen. Denn statt uns eine unbegrenzte Zeit zuzuteilen, nimmt uns diese Erkenntnis die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit … Was uns (in der Vorstellung des Todes) nicht zur Last fällt, wenn es zugegen ist, bedrückt uns grundlos, solange es noch aussteht“.
Vom Auf-immer-wieder-aufs-Neue-jung-Werden von EDUCULT
Von Goethe gibt es einen Definitionsversuch des Alters als stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung. Diese Interpretation bringt mich zu einem pragmatischeren Grund dieses Textes, der darin besteht, dass sich – auf Grund meines Alters – wieder einmal Änderungen bei EDUCULT abzeichnen. Seit vorigen Sommer ist Aron Weigl, ein junger Wissenschafter in Sachen Kulturpolitikforschung und an der Universität Hildesheim promoviert, bei EDUCULT erfolgreich tätig. In zunehmendem Ausmaß unterstützt er mich auch bei der operativen Geschäftsführung, um diese in absehbarer Zeit zu übernehmen, um mir die Gelegenheit zu geben, eine weitere Freiheit des Alterns in Anspruch zu nehmen: ein Stück zurückzutreten, nichts mehr werden zu müssen, anderen den Vortritt geben zu dürfen. Das tue ich umso lieber, als ich überzeugt bin, dass mit der Übernahme von Führungsverantwortung einer jungen Wissenschafter-Generation auf ebenso unverstellte wie professionelle Art und Weise neue Zugänge möglich werden, die ein alternder Blick nicht mehr zu erkennen vermag. Dass er und der Rest des EDUCULT-Teams dabei auch in Zukunft auf meine (und die des Vorstands) volle Unterstützung zählen können, versteht sich fast von selbst.
pixabay