2014 wurde Marina Abramović von den Serpentine Galleries im Londoner Hyde Park eingeladen, bislang unbekannte Arbeiten zu zeigen. Nach einer Begegnung mit einem Schamanen (inklusive einem Bad an einem Wasserfall im brasilianischen Dschungel) entschied sich die mittlerweile weltberühmte Performance-Künstlerin dafür, „gar nichts“ zu zeigen: „Die Leute sollen hereinkommen, und ich werde sie an der Hand nehmen und vor eine leere Wand führen. Das Publikum wird statt meiner das performende Subjekt sein“.
Diese Ausstellung „immaterieller Kunst“ sollte unter dem Titel „512 Hours“ in die Ausstellungsgeschichte eingehen. Menschen mit ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen fühlten sich angesprochen. Sie alle wurden eingeladen, unterschiedliche, in der Regel ganz einfache Übungen zu machen: eine leere Wand anstarren, Linsen zählen oder auf einem kleinen Podest stehen: „Da stand ein Science-Fiction-Autor neben einer Hausfrau aus Bangladesch neben einer kinderreichen Familie neben einem englischen Bauern neben einem Kunstkritiker – und alle standen reglos da, die Augen geschlossen, in vollkommener Stille“. Eine besondere Erinnerung verbindet Abramović mit einem Jungen namens Oscar, der von dem Podest ganz fasziniert war: „Ich bin nicht besonders gut in der Schule, aber wenn ich mich auf das Podest stelle und dann nach Hause gehe und mich mit geschlossenen Augen in mein Zimmer stelle, ist alles in Ordnung“.
„Franziska“
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Wenn ich das lese, dann taucht auch bei mir eine darauf eng bezogene Assoziation auf: Im Rahmen des EDUCULT-Projekts „Lernen in, mit und durch Kultur“ besuchte ich zur selben Zeit eine Klasse einer (damals noch neuen) Neuen Mittelschule aus Himberg den dschungel im Wiener MuseumsQuartier. Der damalige Leiter Stefan Rabl forderte die Schüler*innen im Theater-Workshop zu einer ganz einfachen Übung auf. Jede*r sollte aus der Gruppe treten, einen Platz im Raum suchen, die Beobachter*innen in den Blick nehmen und dann im für sie richtigen Zeitpunkt ihren* seinen Namen aussprechen. Ein ganz schüchternes Mädchen aber hatte sichtlich Hemmungen. Ihre „Performance“ aber, wie sie nach langem Innehalten ihren Namen in unnachahmlicher Weise aussprach, hätte nicht eindringlicher sein können: „Franziska“ wird mir für immer in Erinnerung bleiben.
Aber zurück zu Marina Abramović. Die Geschichte zu „512 Hours“ findet sich neben vielen anderen in ihrer Autobiographie „Durch Mauern gehen“, die 2016 auf Deutsch erschienen ist . Die Künstlerin mit serbisch-jugoslawischen Wurzeln war zu diesem Zeitpunkt bereits eine weltweit bestaunte Erscheinung. Spätestens mit ihrer Performance „The Artist is Present“, in deren Rahmen sie im MoMA über Monate hinweg Besucher*innen schweigend in die Augen geblickt hatte, mutierte sie zu einer Kulturfigur der internationalen Kunstszene.
Die Rezensionen der Biographie waren widersprüchlich. So mokierte sich Peter Geimer in der FAZ darüber, er würde nichts Neues erfahren: Abramović hätte keine neuen Pointen parat und verfüge auch nicht über die notwendige Distanz zum „privaten Ich“. Diese Einschätzung erzählt vielleicht mehr über den Rezensenten als über die Rezensierte, wenn Geimer die Darstellung der persönlichen Zugänge einer Künstlerin nur im Kontext eines elaborierten kunsttheoretischen Diskurses als ernstzunehmend wahrnehmen kann. Eine andere Wahrheit ist freilich, dass diese Autobiographie zum Lieblingsbuch vieler Kunststudierender geworden ist. Und auch mich hat ihre einfache, unverstellte Sprache, in der sie eine unglaubliche Lebensgeschichte erzählt, in den Bann gezogen, als ich sie jetzt nochmals gelesen habe.
Sie berichtet über den Anfang ihres Lebens in Titos Jugoslawien, sodass wir einiges von den Ausbruchsversuchen einer jungen Frau erfahren, die danach trachtet, sich der disziplinierten Ödnis des vor allem von der Mutter repräsentierten „unmenschlichen“ politischen Regimes zu entziehen. Bereits in der Erzählung ihrer ersten Jahre wird ein Anspruch an Kunst dargelegt, dessen Energie aus dem Widerstand kommt. Mit Gleichgesinnten (und mit Unterstützung des zunehmend „systemabweichlerischen“ Vaters) erstritt sie vom kommunistischen Regime ein studentisches Kulturzentrum und verschaffte sich auch Kontakte mit einer neuen Künstler*innen-Generation im Ausland. Schon damals wurde ihr das Spannungsverhältnis zwischen individueller Stärke und dem Aushalten von Furcht zum zentralen künstlerischen Antriebsmittel. Ihre Kunst wollte von Anfang an aus dem Geist des „Anders-als-bisher“ erschaffen werden. Auf immer neue Weise begibt sie sich mehr oder wenig absichtsvoll in Umstände, in denen sie gezwungen ist, für die Realisierung ihrer künstlerischen Pläne zu kämpfen und sich dabei die Unterstützung Gleichgesinnter zu sichern.
Ihre frühen Performances, die die Verletzlichkeit ihrer Existenz zum Gegenstand haben, machen deutlich, dass die Kritik an der mangelnden Distanz zum „eigenen Ich“ völlig ins Leere geht. Es ist ja gerade dieses „private Ich“, das sie zum Ausgangspunkt ihrer Inszenierungen macht. Es ist ihr jeweiliger körperlicher ebenso wie ihr emotionaler Zustand, der das „Material“ für ihre Kunstproduktion bildet.
In der Kunst überhaupt erst zum Leben kommen
Beim Lesen wurde mir noch einmal so richtig klar, was der Anspruch einer künstlerischen Avantgarde, noch einmal zu versuchen, „Kunst und Leben“ miteinander zu verbinden, bedeutet: Für Abramović beginnt das, was sie als Leben anerkennt, überhaupt erst in der Performance. Dort erfährt sie sich in einer Weise, die das Leben außerhalb der Kunst bestenfalls als schalen Ersatz für das erkennt, um was es „eigentlich“ geht. Es ist also „ihre“ Kunst, in der das Leben überhaupt erst zum Ausdruck kommt, während alles das, was außerhalb der Kunst passiert, bloßes Beiwerk bildet. Nicht verwunderlich, dass sich daraus ein besonderer Anspruch einer Unbedingtheit bildet, der ansonsten unhinterfragte Grenzen irritiert. Mit vielen anderen formuliert sie hier einen fundamentalen Angriff auf das traditionelle Kunstsystem, das Kunst auf die Funktion der Dekoration einer entfremdeten Lebensweise verengt hat.
Da wartet eine nicht auf das nächste Förderprogramm, um dann zu überlegen, welches Projekt sie dafür entwickeln könnte
Abramović war also von ihren Anfängen an nicht die Künstlerin, die gewartet hat, ob es ein Förderprogramm gibt, um sich dafür ein Projekt zu überlegen, sondern die gar nicht anders konnte, als ihren künstlerischen Ansprüchen nachzugehen, oft gegen alle nur denkbaren Widersprüche. Diese kamen in der Regel von außen (etwa wenn ihr die chinesische Regierung über Jahre verunmöglicht hat, die chinesische Mauer abzugehen, um in der Mitte ihren Lebenspartner Ulay zu treffen). Sie kamen aber auch von innen, wenn immer wieder ihre Ängste, sich diesen in derartiger Weise auszusetzen, Überhand zu nehmen drohten: „Zu Beginn einer Performance muss ich immer erst durch eine Pforte gehen“, hinter der zum Teil „unmenschlicher“ Schmerz und damit verbundene Angst warten, um dann in etwas anderes verwandelt zu werden.
Ein Teil der Attraktivität von Abramović Arbeiten liegt wohl darin, dass anhand ihrer Person das Leben in seiner ansonsten nicht erfahrbaren Intensität zum Ausdruck kommt. Dabei bildet sie eine ideale Projektionsfläche für diejenigen, die sich nach einer solchen tieferen Erfahrung ihrer ansonst zweifelhaften Existenz sehnen. Da setzt sich jemand aus und lebt – zumindest für die Zeit der Performance – „für mich“ und erlaubt mir einen Zugang zum Leben, der mir ohne sie verschlossen wäre.
Es ist das Publikum, das die Kunst schafft
Wohl mit der Einsicht in diese Erwartungen des Publikums – wie nicht nur die „Ausstellung“ in der Serpentine Gallery gezeigt hat – hat Abramović begonnen, sich als künstlerisches Material scheinbar zurückzunehmen und den Menschen, die mit ihr in Beziehung treten, einen größeren Raum der Selbsterfahrung zu geben. Sie sieht sich zunehmend als ein „Medien“, mit Hilfe dessen das Publikum künstlerisch zu sich zu finden vermag. In Anlehnung an diesen Gedanken hat sie ein eigenes Institut gegründet, in der Menschen lernen können, sich mit ganz einfachen Übungen ihres Menschseins bewusst zu werden. Dass Abramović immer wieder auch den Kontakt zu Schamanen, Wahrsagern oder Heilern gesucht hat, erzählt wohl in erster Linie über ihren unbändigen Willen, dem Leben so viele Facetten wie möglich abzugewinnen, ohne deshalb schon ein insgesamt irrationales Weltbild propagieren zu wollen.
Zwischen diesen Passagen einer lebenslangen Suche erfahren wir einiges über ihre Beziehungen, ihre Geschäftspraktiken, ihre Gesundheit und ihre Versuche, mit anderen Künstler*innen zusammenzuarbeiten. Dazu gehörte auch der damals noch ganz junge Igor Levit, mit dem sie im Rahmen einer Performance zu den Goldberg Variationen von J. S. Bach zusammenfand. Dass sich in ihrer Beschreibung kein Wort zu Levits musikalischer Performance findet, verweist – bei allem sonstigen Engagement für diejenigen, die nach eigenen Dafürhalten ein eminenter Teil ihrer Performances sind – auch auf ein gerütteltes Maß an Selbstbezogenheit, die die gesamte Autobiographie durchzieht.
Was wir von Abramović für die Bewältigung der aktuellen Krise lernen können
Es gibt zumindest zwei Botschaften von Abramović, die von beträchtlichem Belangen für den aktuellen Transformationsprozess des Kulturbetriebs angesichts der Pandemie sind: Da ist zum einen die künstlerische Absicht, das Verhältnis von Künstler*innen und ihrem Publikum auf neue Beine zu stellen: In all ihren Arbeiten macht sie deutlich, dass sie bei aller Ausgesetztheit bestenfalls den Katalysator für einen Kunstprozess darstellt, der erst in den Teilnehmer*innen zu sich kommt. Diese dürfen sich ruhig aus ganz unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen rekrutieren. Dabei zählen nicht die Zahlen; sie nimmt sich Zeit für jeden und für jede, solange sie sie „in Anspruch nehmen“.
Und da ist zum anderen das Lebensmotto, das sie immer wieder durch Mauern gehen lässt: Dabei weigert sie sich, vom Gewohnten leiten zu lassen und Dinge immer wieder zu wiederholen. Stattdessen gehört es zu ihren Arbeitsprinzipien, das Ungewohnte, das Schmerzhafte, das Furchterregende, das Überfordernde nicht zu vermeiden, sondern sich stattdessen darauf einzulassen und zur Grundlage ihres künstlerischen Anspruchs zu nehmen. Anhand mehrerer Projekte schildert sie einprägsam, wie es ist, durch den Schmerz zu gehen (wer kann schon für acht Stunden regungslos auf einem Stuhl sitzen und das für Monate, ohne durch jede nur denkbare Qual zu gehen?), um diesen hinter sich zu lassen.
Im Schmerz den Schmerz überwinden, das wünsche ich auch dem Kulturbetrieb in diesen Tagen, der gerade seine Hoffnungen begräbt, es würde irgendeinmal so wie es einmal war. Stattdessen können wir mit Abramović lernen, dass es möglich ist, Schmerz der Veränderung in die Augen zu schauen und so gestärkt daraus hervor zu gehen.
Wer sich also Inspiration holen will, wie ein relevanter Kunstbegriff aussehen könnte, dem empfehle ich einen Blick in Abramović Autobiographie. Für Eilige gibt es eine Einführung aus ihrem eigenem Mund.