Kaum ein anderes Ereignis wie der überraschende Rücktritt Chris Dercons als Intendant der Berliner Volksbühne repräsentiert die aktuelle Verunsicherung der Kulturpolitik. Nach der langjährigen politischen Aufladung der Theaterästhetik des Hauses durch Frank Castorf und seinen Mitstreiter*innen sollte 2017 der Gottseibeiuns des Neoliberalismus Chris Dercon mit ebenso polyglottem wie beliebigem Zugang zur Kunst die Volksbühne führen. Schon in seiner ersten Saison musste er sein Scheitern eingestehen. Jetzt heißt die neue Devise des Interimchefs Klaus Dörr: „Hast du mal ein Gastspiel?“
Auf der Website der Volksbühne findet sich der Hinweis, dass das Haus vertraut sei „mit historischen und ästhetischen Umbrüchen.“ Vieles spricht dafür, dass wir uns in der Tat in einer Phase eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbruchs befinden, der weitreichende Auswirkungen auf Kulturpolitik hat.
Erinnern wir uns an die Anfänge der sogenannten Neuen Kulturpolitik in den 1970er Jahren, die für sich beanspruchte, die Gesellschaft nachhaltig mitzugestalten. Während Bruno Kreisky nach einer „durchaus radikalen Kulturpolitik“ rief, formulierte sein Kulturminister Fred Sinowatz das Diktum von der „Kulturpolitik als Fortsetzung von Sozialpolitik“. Die regierende Sozialdemokratie versprach, ein umfassendes gesellschaftspolitisches Reformprojekt in Gang zu setzen, das früher oder später alle Menschen sozial homogen und damit zu Mitgliedern eines gemeinsamen Mittelstandes machen würde. Sowohl materielle als auch immaterielle Güter wie der Zugang zu Kunst und Kultur sollten mit staatlichen Mitteln so umverteilt werden, dass sukzessive allen Bürger*innen ein gleichberechtigter Zugang zu den gesellschaftlichen Errungenschaften ermöglicht würde. Speziell für Künstler*innen – viele bis dahin vom Betrieb ausgeschlossen - wurde ein umfassendes Fördersystem installiert, das ihre Produktionsbedingungen ungeachtet der Marktzwänge nachhaltig verbessern sollte. Ethische bzw. nationale Grenzziehungen traten in dieser Phase der Öffnung weitgehend in den Hintergrund.
Der Kulturpolitik ist der sozialpolitische Boden entzogen
Es sollte anders kommen. Nur wenig spricht heute dafür, dass es Kulturpolitik gelungen wäre, die Gesellschaft zu einem wie immer gearteten Besseren zu wenden. Stattdessen scheint ihr in beängstigender Weise der Boden entzogen. Seit geraumer Zeit erleben wir eine schleichende Erosion des Wohlfahrtstaates, den wir uns – geht es nach den Apologet*innen einer „geistig-moralischen Wende“ und einer damit verbundenen „konservativen Revolution“ – immer weniger leisten können. Selbst Ulrich Becks Fahrstuhleffekt, der seinen Nutzer*innen ungeachtet ihrer sozialen Stellung Verbesserungen ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse in Aussicht gestellt hat führt nicht mehr nach oben sondern nach unten; dorthin, wo Unsicherheit, Wut und Ressentiment gegen die anderen zu Hause sind.
Neoliberale Versuchungen, die eine neue Konjunktur der Kulturpolitik aus dem Geist der Marktwirtschaft versprachen, taten ein Übriges, den Kulturbetrieb von den sich verschlechternden sozialen Bedingungen von immer mehr Menschen zu entkoppeln. Kreativität, Innovation und Mobilität wurden zu zentralen Betriebsmitteln eines neuen Wirtschaftszweiges der Cultural and Creative Industries verklärt, in der jeder Akteur im Konkurrenzkampf jeder gegen jeden antreten sollte. Die zentrifugalen Wirkungen einer nicht mehr politisch sondern marktwirtschaftlich vorgetragenen Modernisierung auch des Kulturbetriebs hingegen blieben selbst bei den in den 1970er Jahren sozialisierten Kulturpolitiker*innen gerne unterbelichtet.
Wenn heute der gesellschaftspolitische Wind zunehmend von rechts weht, dann hat das auch Auswirkungen auf die Kulturpolitik. Nicht erst die jüngsten Wahlen in Ungarn haben gezeigt, dass ein neuer Nationalismus mit seinen schon überwunden geglaubten Grenzziehungen drauf und dran ist, die Integrationsbemühungen des europäischen Kontinents zu unterlaufen. Der britische Politikwissenschafter Garton Ash spricht mittlerweile von einem „Kontinent, der von einer Welle des Nationalpopulismus“ geflutet würde. Dieser ist nicht nur drauf und dran, die mühsam errungenen demokratischen Standards liberaler Rechtsstaatlichkeit außer Kraft zu setzen; er vermittelt auch ein Bedürfnis, sich kulturell gegenüber denjenigen zu positionieren, die ihnen auf ihrem Weg zur Macht im Wege stehen.
Die rechte kulturelle Hegemonie und ihr kulturpolitisches Programm
Statt der einst versprochenen Vergemeinschaftung von Mittelständler*innen sind wir heute mit Desintegrationstendenzen konfrontiert, die nicht nur die österreichische Gesellschaft auseinanderdriften lassen. Dazu kommen die Polarisierungen des freiwilligen und unfreiwilligen Zuzugs von Menschen aus Krisenregierungen, die sich politisch gut instrumentalisieren lassen. In dieses Szenario fügt sich eine frustrierende Ungewissheit über individuelle Zukunftsaussichten, die wachsende Teile der Bevölkerungen erfasst hat. Eine damit verbundene Entsolidarisierung tut ein Übriges, die Bedeutung eines spezifisch kulturpolitischen Engagements zur Mitgestaltung von Gesellschaften in Frage zu stellen.
Im Bemühen, das Entstehen einer darauf basierenden neuen rechten kulturellen Hegemonie einzuschätzen, mehren sich die sozialwissenschaftlichen Stimmen, die von einem strategischen Fehler der liberalen Eliten sprechen, auf Kosten der Erneuerung demokratischer Politik zu sehr auf moralisch aufgeladene Diversitätsaspekte gesetzt zu haben. So schrieb der US-amerikanische Politikwissenschafter Mark Lilla bereits kurz nach Donald Trumps Wahlsieg vom „Scheitern der Identitätspolitik“, die hoffte, die Welt mit kulturellen Mitteln zum Besseren zu wenden. Ihre Parteigänger*innen hätten es verabsäumt, sich intensiver mit den Themen zu beschäftigen, die die Bürger*innen tatsächlich umtreibe. Statt das demokratische Projekt weiter zu vertiefen, habe eine „Obsession mit der Diversität“ dazu geführt, dass sich gerade der durchschnittliche, von sozialer Schlechterstellung betroffene Bürger in besonderer Weise selbst als Teil einer benachteiligten Gruppe hochzustilisieren vermochte, um damit bei Rechtspopulisten nur zu gerne Gehör zu finden. Auf einer solchen Grundlage könnten zwar alle Arten kultureller Unterschiede auf den dafür vorgesehenen Bühnen zelebriert werden, die dahinter liegenden sozialen Fehlentwicklungen würden dadurch jedoch nicht mehr tangiert.
Die kulturaffine Hautevolee gegen das gesunde Volksempfinden
Es gehörte also zu einer durchaus gewieften Wahlkampfstrategie, wenn der österreichische Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer in seinen Wahlkampfauftritten immer wieder versuchte, eine „Hautevolee“ aus Künstler*innen und Intellektuellen gegen das gesunde Volksempfinden in Stellung zu bringen. In ihrer Verteidigung kultureller Vielfalt ginge es doch nur um die Beibehaltung ihrer – auch durch Kulturpolitik ermöglichte – Beibehaltung von Privilegien, während die einfachen Leute gezwungen seien, ihre wohlerworbenen sozialen Rechte gegen eine Vielzahl zugewanderter vaterlandsloser Gesellen, die von eben dieser „Hautevolee“ auch noch gehätschelt würde, zu verteidigen. Er desavouierte damit handstreichartig alle Bemühungen des Kulturbetriebs, mit dem Angebot vielfältiger Vermittlungsprogramme neue, bislang vernachlässigte Zielgruppen zu erreichen.
Darauf Bezug nehmend meinte der deutsche Politikwissenschafter Claus Leggewie jüngst in den Blättern für deutsche und internationale Politik, dass es zwar gelungen sei, Erfolge im Reproduktionsbereich zu erzielen, der Produktionsbereich und damit das, was schon einmal als „Kapitalismuskritik“ bezeichnet wurde, aber sei weitgehend aus den Blick geraten. Das Ergebnis sei eine umfassende Revision des ursprünglichen kulturpolitischen Anspruchs an Gesellschaftspolitik: In einer Uminterpretation eines angeblich von links angezettelten Culture War ginge es der Neuen Rechten um die Wiederbelebung eines Identitätsangebotes, das sich von der ursprünglichen Idee der umfassenden Vergemeinschaftung auf demokratischer Basis grundlegend unterscheiden würde: Sozialdarwinismus statt Solidarität, Patriarchat statt Emanzipation, plebiszitäre Volksherrschaft statt Demokratie, Schlussstrich statt Erinnerung, völkischer Nationalismus statt Vielvölkerrepublik.
Der Verlust der sozialen Basis drängt den Kulturbetrieb ins gesellschaftliche Abseits - Kulturpolitik findet mittlerweile anderswo statt.
Die unmittelbaren kulturpolitischen Konsequenzen der Übernahme einer rechten kulturellen Hegemonie gestalten sich bislang unterschiedlich: Während Gerd Wilders in seinem letzten Wahlkampf den vollständigen Rückzug des Staates aus dem Kulturbereich propagierte, ist es in Ungarn zu einer nahezu vollständigen Umfärbung nicht nur in den führenden Etagen des Kulturbetriebs zugunsten Fidesz-Parteigängern gekommen (Als einer der wenigen bislang verbliebenen Kritiker des Orban-Regimes hat der namhafte Theaterregisseur Arpad Schilling unmittelbar nach dem jüngsten Wahlsieg von Fidesz bekannt gegeben, Ungarn verlassen zu wollen).
In Österreich lässt die jüngste Regierungserklärung im Kapitel „Kunst und Kultur“ keine gravierenden Brüche im Verhältnis Staat und Kulturbereich erkennen. Von Kommentatoren als ziemlich ambitionslos eingeschätzt deuten auch die jüngst veröffentlichen Budgetzahlen – die von einem weitgehenden Gleichbleiben der öffentlichen Kunst- und Kulturausgaben sprechen – zumindest fürs Erste auf eine Kontinuität der kulturpolitischen Verhältnisse unter konservativ-rechtspopulistischen Vorzeichen hin.
Kulturpolitisch brisanter sind da möglicherweise die Teile des Regierungsprogramms, die nicht unter Kunst und Kultur firmieren. Immerhin hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, die bestehenden Migrationsbestimmungen noch einmal beträchtlich zu verschärfen und damit die ethnisch-kulturellen Konfliktlinien im Sinne des schon angesprochenen „gesunden Volksempfindens“ möglichst deutlich zu markieren. Wie wir in diesen Tagen hautnah erfahren, gehört zu ihren Prioritäten auch die weitere Aushöhlung sozialstaatlicher Errungenschaften, die früher einmal die Grundlage für eine Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik bilden sollten.
Für den Kulturbetrieb erweisen sich diese Absichten als durchaus fatal. Wenn der Noch-Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny in einem seiner Abschieds-Interview zuletzt meinte, dass es für Politiker immer schwieriger würde, „die Anliegen der Kunst zu vertreten“ weil die „Bedeutung der Kultur, etwa bei Regierungsverhandlungen“ sinken würde, dann ist das mehr als ein Indiz dafür, wie sehr sich der Kulturbereich mittlerweile ins gesellschaftspolitische Abseits gebracht hat. Erst jetzt zeigen sich die negativen Auswirkungen einer Förderpolitik, die Künstler*innen unter einen Glassturz gestellt hat. In ihrer selbstreferentiellen Sonderstellung müssen sie jetzt erfahren, dass sie auf ein weithin wirkungsloses Abstellgleis geraten sind, von wo aus die politischen Verhältnisse vielleicht noch beobachtet aber nicht mehr nachhaltig zum Besseren verändert werden können. Kein Grund also für die aktuelle Regierung, die Künstler*innen noch einmal in ihrer gesellschaftskritischen Funktion fürchten zu müssen.
Dabei hat dieser Verlust der sozialen Basis durchaus auch unmittelbar negative Folgen für weite Teile der Künstler*innenschaft. Während einige wenige von ihnen international als herausragende Vertreter*innen der Marke „Kulturgroßmacht Österreich“ herumgereicht werden, um auf diese Weise die aktuellen parteipolitischen Verwerfungen vergessen zu machen, stagniert die soziale Situation der meisten Künster*innen auf niedrigstem Niveau. So macht das mittlere Gesamteinkommen von Künstler*innen in Österreich gerade einmal Euro 11.000.-- pro Jahr aus; aus unmittelbar künstlerischen Tätigkeiten können überhaupt nur Euro 8.000.-- generiert werden. Und doch findet sich im aktuellen Regierungsprogramm kein einziger Hinweis auf die unbefriedigende soziale Lage von Künstler*innen, die damit ungewollt zu Vorreitern der voranschreitenden sozialen Ungleichheit in Österreich mutieren.
Auf verhängnisvolle Weise ist so das Gros der Künstler*innen, das irgendwann einmal aufgebrochen sind, um gesellschaftspolitische Wirkung zu erzielen, selbst zum Opfer der grassierenden Rückschritte im Bereich der Sozialpolitik geworden. In dem Maße, in dem Künstler*innen heute keinen Anschluss mehr an ein gesamtgesellschaftlich relevantes politisches Projekt mehr finden, werden sie selbst zu Leidtragenden von wachsender sozialer Verungleichung (auch mit kulturellen Mitteln). Deren Betreiber*innen stellen darauf ab, die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gegeneinander aufzuhetzen anstatt noch einmal zu versuchen, sie im Zuge der Erneuerung politischer Überzeugungsarbeit zu vergemeinschaften. Das weithin im Hintergrund agierende „ein Prozent“ der superreichen Eliten, das sich schon längst von jeglicher meritokratischen Illusion gelöst hat, kann sich zufrieden zurücklehnen.
Wenn Frank Castorf viele Jahre die Fahne der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Künste hochgehalten hat, so erwiesen sich Dercons Versuche, diese für die Bedürfnisse der Konsumgesellschaft in den internationalen Markt zu integrieren, als therater-ästhetisches und finanzielles Desaster. Ab sofort ist Improvisation auf unsicherer Grundlage angesagt; das gilt für die Volksbühne im Besonderen und das gilt auch für Kulturpolitik ganz allgemein.
Am 26. April 2018 findet an der Universität für angewandte Kunst ein, vom Autor kuratiertes ganztägiges internationales Symposium zum Thema „Changing Politics – Changing Cultures“ statt.